12:10 Uhr, Mittagspause in der Mensa einer sozialen Institution. Ein plötzlicher Knall! Alle Köpfe drehen sich, um zu schauen, was passiert ist. Am Boden liegen Scherben eines Tellers und eine aufgebrachte Klientin schreit: «Lasst mich doch alle in Ruhe! Ihr seid doch alle Arschlöcher!» Ein Angestellter des Servicepersonals eilt herbei, stellt sich breitbeinig vor die Klientin und weist sie mit lauter Stimme an: «Beruhige Dich!» Daraufhin schmeisst die Klientin den zweiten Teller nach dem Angestellten. Was ist in dieser Situation schiefgelaufen? Und wie könnte man verhindern, dass es überhaupt erst soweit kommt? Zur Beantwortung dieser Frage werden in diesem Artikel verschiedene Massnahmen zur Deeskalation aufgezeigt. Unter Deeskalation wird das Durchbrechen einer bestehenden oder sich anbahnenden Aggressionsphase verstanden.
Stufe 1: Verminderung aggressionsauslösender Reize Auf Stufe 1 der Deeskalation geht es darum, alles, was zu unnötigem Stress führt, zu minimieren. In sozialen Institutionen kann das zum Beispiel Folgendes sein:
Auch Dinge, die zwar da sind, die Klient*innen aber nicht haben können, können Frustration und Aggressivität fördern oder auslösen. Zum Beispiel herumstehende Kekse, die sie nicht essen dürfen, oder eine vorhandene Game-Station, die sie nicht brauchen dürfen. Grund dafür ist, dass die Selbstbeherrschung immer Willenskraft braucht. Inzwischen geht man davon aus, dass die Willenskraft wie ein Muskel funktioniert, der irgendwann ermüdet (vgl. Baumeister & Tierney 2011, S. 10). Sie ist sozusagen aufgebraucht. Wut und Ärger konstruktiv zu lösen und sich selbst zu beherrschen, braucht ebenfalls Willenskraft, die zu diesem Zeitpunkt dann vielleicht nicht mehr zur Verfügung steht. Deshalb kann es von Vorteil sein, Reize, die verlocken und zugleich Selbstkontrolle benötigen, ganz aus dem Blickfeld zu räumen, also die Kekse beispielsweise ausser Reich- und Sichtweite zu platzieren. Auch strukturelle Gewalt kann aggressionsfördernd wirken. Im Gegensatz dazu wirken das Empfinden von Selbstbestimmung und das Erleben von Entscheidungsmöglichkeiten deeskalierend. Geben Sie den Klient*innen Wahlmöglichkeiten, die an sie angepasst sind und sie nicht überfordern. Durch unsere Spiegelneuronen im Gehirn übertragen sich Emotionen und Gefühle auf andere Menschen. Deswegen kann ein wütender Klient eine andere Klientin anstecken. Das verhält sich aber nicht nur zwischen Klient*innen so: Auch gestresste Betreuungspersonen haben diese Wirkung auf Klient*innen. Wenn Sie gestresst sind, ist es deshalb wichtig, dass sie tief durchatmen, ihre Körperhaltung und ihr Gesicht entspannen, an etwas Schönes denken und das fühlen und lächeln. Überhaupt ist es sinnvoll, entspannte Momente reinzubringen. Das kann auch mittels Ordnung, ruhigen Farben, Musik, geregelten Abläufen und Ritualen geschehen. Stufe 2: Früherkennung «Wie kann Gewalt verhindert werden? Es gar nicht erst soweit kommen lassen!» (Unbekannt). Je früher man eine drohende Eskalation erkennt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass deeskalierende Massnahmen zum Erfolg führen. Deshalb geht es auf dieser Stufe darum, «die Flamme vor dem Feuer zu erkennen»! Vor fast jeder Eskalation gibt es Frühwarnzeichen: Emotionen, wie Ärger oder Frustration, ein angespanntes Gesicht oder eine lautere Stimme. Um diese frühzeitig zu erkennen, ist es wichtig, sie genau zu beobachten (vgl. Wesuls, Heinzmann und Brinker 2018, S. 13). In der Psychiatrie gibt es eigens zur Früherkennung von drohenden Eskalationen ein Beobachtungsinstrument: die Broset-Gewalt-Skala. Da dieses Beobachtungsinstrument nicht für alle Institutionen gleichermassen gilt, macht es Sinn, sich im Team über die individuellen Frühwarnsymptome der Klient*innen auszutauschen. Während die einen sich vielleicht ganz zurückziehen, wenn es ihnen nicht gut geht, sind die anderen besonders redselig oder wirken angespannt. Oftmals bemerken Betroffene auf dieser Stufe ihre eigene erhöhte Erregtheit noch nicht, aber für Aussenstehende ist sie schon wahrnehmbar. Stufe 3: Verbale Deeskalation Steigt das Erregungsniveau weiter an, ist es immer wahrscheinlicher, dass die Situation zu eskalieren droht. In dieser Phase gilt immer «Deeskalation first!». Es ist wichtiger zu deeskalieren, als sich durchzusetzen. Ziel ist es, dem Klienten oder der Klientin und sich selbst zu helfen, aus der Situation rauszukommen. Dabei ist Selbstreflexion zentral. Sie ist im Zusammenhang mit Aggressionen in zweierlei Hinsicht wichtig. Einerseits sollte reflektiert werden: Wie wirkt der andere auf mich? Was löst sein Verhalten bei mir aus? Wichtig ist, dass die Erregung und Aggressivität und eventuell damit einhergehende Beleidigungen oder Beschimpfungen nicht persönlich genommen werden. Man sollte sich bewusst machen, dass sie ein Ausdruck der momentanen Notlage des Menschen sind. Und andererseits sollte reflektiert werden: Wie wirke ich auf mein Gegenüber? Kann ich selbst meine Gefühle unter Kontrolle halten? Welche Gefühle löse ich zum Beispiel mit meiner Körperhaltung, Mimik oder Gestik beim anderen aus? So ist es in den meisten Fällen unter anderem empfehlenswert, eine ausreichende Körperdistanz einzuhalten, eine seitliche Körperhaltung einzunehmen, keine ruckartigen Bewegungen zu machen, zwar Augenkontakt zu suchen, aber keinen aufdringlichen Augenkontakt und offene Hände zu zeigen. Um die Aufmerksamkeit zu bekommen und das Gegenüber einen Moment aus seiner Erregung zu holen, hilft oft ein kurzes, bestimmtes «Hallo, Kurt» oder «Stopp, Anna»; das Ansprechen mit Namen wird empfohlen. In diesem Moment ist es wichtig, dass keine Belehrungen folgen, sondern die Gefühle anerkannt und akzeptiert werden.
Es bringt nichts, lange zu erzählen und auf die Person einzureden, denn in diesem emotionalen Zustand ist sie nicht aufnahmefähig. Daher sollten 2-3 Sätze reichen. Manchmal ist auch die Frage: «Was hat dich aufgebracht?» hilfreich, da es die Energie in einen anderen Hirnteil, weg von den Emotionen, lenkt und die Person sich ernst genommen fühlt. Vielversprechend sind jedoch oft die Fragen nach dem lösungsorientierten Ansatz:
Was im Einzelfall hilft, kann sehr unterschiedlich sein. Je nach Person und Situation kann es hilfreich sein, in einen anderen Raum zu gehen, sich zu bewegen, zu spazieren, sich mit Musik abzulenken, eine Atemübung zu machen oder ein Glas Wasser zu trinken. Wenn die Person selbst nicht weiss, was ihr gut tut, machen Sie ihr ein Angebot. Sie können zum Beispiel fragen: «Möchten Sie ein Glas Wasser?» oder «Möchtest du kurz rausgehen an die frische Luft?» Je nachdem, wie bedrohlich die Situation schon ist, macht es Sinn, sofort jemanden zu benachrichtigen und dazuzuholen. In jedem Fall ist es wichtig, den Vorfall mit Kollegen/Kolleginnen zu teilen und gemeinsam zu reflektieren. Immer noch verbreitet ist die Annahme, dass man Ärger und Wut loswerden kann, wenn man sie abreagiert, auslebt. Zum Beispiel, indem man auf einen Boxsack oder ein Kissen einschlägt, sie rausschreit etc. Das stimmt insofern, als dass die Betroffenen nach dieser stellvertretenden Brachialaggression das Gefühl von Erleichterung und Befriedigung erleben. Objektiv steigt aber die Wahrscheinlichkeit, dass Wut und Ärger künftig ebenfalls durch Brachialaggressionen ausgelebt werden (Wesuls, S. 27). Denn in diesem Moment wird gelernt, dass das Erleben und Ausleben von Wut und Ärger sich gut anfühlen und lohnen. Dadurch werden diese Emotionen verstärkt, anstatt dass gelernt wird, wieder aus ihnen herauszukommen. Vor diesem Hintergrund rate ich deswegen im Regelfall ab von der Verwendung von Boxkissen und Ähnlichem, um akute Wut und Ärger auszuleben. Stufe 4: Sicherheit herstellen Wenn es eskaliert, ist das vorrangige Ziel, Sicherheit herzustellen und Schaden zu vermeiden. Es gilt immer: «Safety first!» Sie sollten sich nie auf einen Kampf oder ein Gerangel einlassen. Auch nicht, wenn Mobiliar oder Sachen kaputt gehen und Sie der stärkere sind. Falls andere Personen in der Nähe sind, sollten Sie sie sofort in Sicherheit und aus dem Raum bringen. Halten Sie die Fluchtwege frei und stellen Sie sich so hin, dass Sie im Notfall schnell weg können. Sprechen Sie die Person an und teilen Sie ihre eigene emotionale Befindlichkeit offen mit, indem Sie zum Beispiel sagen: «Sie machen mir Angst.» Denn Personen in dieser Phase merken meist nicht mehr, wie sie auf andere wirken und sind für lange Ansprachen nicht aufnahmefähig. Stufe 5: Cool Down Nach der Krise erfolgt die Erholungsphase. Wichtig zu wissen ist, dass das Erregungsniveau also nach der Krise nicht sofort wieder in den Normalzustand sinkt, sondern noch eine Weile stark erhöht bleibt. In dieser Zeit, ungefähr bis 1½ Stunden nach der Eskalation sollte die betroffene Person keinen weiteren Auslösern ausgesetzt werden, da es leicht zu weiteren Eskalationen kommen kann. Daher sollten Sie mit der Aufarbeitung in Form einer Sanktion oder eines Gesprächs unbedingt noch warten. Achten Sie darauf, dass die Person sich in einer ruhigen und geschützten Umgebung beruhigen kann. Falls mehrere Personen involviert sind, die aneinandergeraten sind, trennen Sie diese räumlich. Stufe 6: Nachbetreuung In dieser Stufe sinkt das Erregungsniveau deutlich unter den Normalzustand ab. Diese Phase wird deshalb auch «Depression nach der Krise» genannt. Es kommen Gefühle wie Trauer, Scham oder auch Verleugnung auf. Ziele dieser Phase sind, Beziehungssicherheit herzustellen und die betroffene Person dabei zu unterstützen, wieder zum Normalzustand zurückzukehren. Eine Krise kann die Beziehung gefährden. Deshalb ist es wichtig sicherzustellen, dass es nicht zu einem Abbruch der Beziehung kommt. Dazu sollte der betroffenen Person gezeigt werden, dass sie akzeptiert wird und man gerne mit ihr arbeitet bzw. zusammen ist. In diesem Zusammenhang spricht man auch von der Unterscheidung zwischen Person und Verhalten. Diese Unterscheidung sollte zum Ausdruck gebracht werden. Dazu könnten Sie beispielsweise einen Tee vorbeibringen und nachfragen, wie es der betroffenen Person geht. Unterstützen Sie die Person dabei, sich selbst wieder einzumitten und schnell zum Normalzustand zurückzukehren. Stufe 7: Nachbearbeitung Erst wenn der Klient oder die Klientin wieder den normalen Zustand erreicht hat, ist eine Nachbesprechung zu empfehlen. Denn erst dann ist die Person wieder richtig aufnahmefähig und kann die Informationen verarbeiten. Oftmals lohnt sich eine Nachbesprechung im Team, wobei der Verlauf besprochen wird, Früherkennungszeichen festgehalten werden sowie die ergriffenen Massnahmen zur Deeskalation ausgewertet werden. Damit diese gesammelten Erkenntnisse für das nächste Mal genutzt werden können, ist es von Vorteil, die Ereignisse und Schlussfolgerungen gut zu dokumentieren. Je besser wir den Klienten oder die Klientin kennen, desto erfolgreicher können wir deeskalieren! Literatur und Tipps Abderhalden (2008): Einschätzung des Gewaltrisikos. Erweiterte Brøset-Gewalt-Checkliste (BVC-CH). Online: https://www.gesundheitsdienstportal.de/files/Einschaetzung_des_Gewaltrisikos.pdf (letzter Zugriff: 5.3.2019). Baumeister, R. F. and Tierney, J. (2011). Willpower Rediscovering the greatest human strength. New York The Penguin Press. Beckmann, Franz (2005): Online: https://www.bs-lg.de/wp-content/uploads/2018/07/Deeskalieren_in_Gewaltsituationen.pdf Breakwell, Glynis (1998): Aggression bewältigen: Umgang mit Gewalttätigkeit in Klinik, Schule und Sozialarbeit. Bern, Huber. Ritter, Valerie (2021): Die 9 Eskalationsstufen: So vermeiden Sie interne Konflikte im Betrieb. Online: https://www.sortlist.de/blog/eskalationsstufen/ (letzter Zugriff am 3.11.2021). Schmidt, G. (2004): «den Alptraum beenden…» - Krisenintervention nach Traumatisierungen – ein Überblick. In: W. Müller & U. Scheuermann (Hrsg.), Praxis Krisenintervention (S. 229 – 249). Stuttgart, Kohlhammer. Wesuls, Ralf/Heinzmann, Thomas/Brinker, Ludger (2018): Professionelles Deeskalationsmanagement (ProDeMa). Praxisleitfaden zum Umgang mit Gewalt und Aggression in Gesundheitsberufen. Unfallkasse Baden-Württemberg: Stuttgart und Karlsruhe.
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An der I/O Entwicklerkonferenz anfangs Mai stellt Google drei neue innovative Projekte vor, die Menschen mit einer Behinderung dabei helfen ein selbstbestimmteres Leben zu führen. Die Projekte heissen:
Emil Protalinski beschreibt die drei Projekte auf venturebeat.com wie folgt: Projekt Euphonia Das Projekt Euphonia, das sich in einem frühen Forschungsstadium befindet, zielt darauf ab, Menschen mit Sprachbehinderungen eine einfachere Kommunikation zu ermöglichen. Sprachstörungen können durch Entwicklungsstörungen wie Zerebralparese und Autismus oder neurologische Erkrankungen wie Schlaganfall, ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), MS (Multiple Sklerose) oder beispielsweise durch traumatische Hirnverletzungen und Parkinson verursacht werden. Mit dem Projekt Euphonia will Google die Fähigkeit des Computers so verbessern, dass er Menschen mit Sprachstörungen versteht. Der Computer übersetzt dann ihre Aussagen, so dass sie für alle verständlich sind. Die Anwendungsmöglichkeiten sind im Moment noch begrenzt. Das Programm funktioniert nur für Personen, die Englisch sprechen und Beeinträchtigungen haben, die typischerweise mit ALS verbunden sind. Google ist jedoch zuversichtlich, dass die Studie später auf größere Personengruppen und verschiedene Sprachstörungen angewendet werden kann. Im Video sehen Sie den Google-Sprachforscher Dimitri Kanevsky, der Englisch lernte, nachdem er als kleines Kind in Russland taub geworden war, und Steve Saling, bei dem vor 13 Jahren ALS diagnostiziert wurde. Kanevsky verwendet „Live Transcribe“ mit einem benutzerdefinierten Modell, das speziell darauf trainiert ist, seine Stimme zu erkennen. Saling verwendet „Non-Speech-Sounds“, um Smart-Home-Geräte anzusteuern und Gesichtsbewegungen, um bei einem Sportspiel mit zu fiebern. Live Relay Menschen, die taub oder schwerhörig sind, kommunizieren häufig über Gebärdensprache oder Chat. Aber was ist, wenn sie die Person, mit der sie sprechen, nicht sehen können und keine SMS verfügbar sind? Sprachanrufe sind keine Option. Bis der Google-Softwareentwickler Sapir Caduri feststellt, dass sie es doch sind! „Live Relay“ verwendet die Spracherkennung und die Sprachausgabe auf dem Gerät, damit Ihr Telefon in Ihrem Namen zuhören und sprechen kann. Das Forschungsprojekt ermöglicht es einer sprechenden Person, eine gehörlose oder schwerhörige Person anzurufen. Das Tool wandelt Sprache in Echtzeit in Text um und sendet geschriebene Nachrichten als gesprochene Stimme zurück. Die Person, die spricht, kann einfach am Telefon sprechen, und die Person, die taub oder schwerhörig ist, kann eine SMS an ihr Telefon senden. Live Relay nutzt auch die Funktionen "Smart Compose" und "Smart Reply" von Google. Vorausschauende Schreibvorschläge und sofortige Antworten helfen der tippenden Person, mit der Geschwindigkeit eines Sprachanrufs Schritt zu halten. Wichtig ist, dass Live Relay vollständig auf Ihrem Gerät ausgeführt wird, sodass Ihre privaten Anrufe nicht an Google gesendet werden. Das Tool benötigt keine Datenverbindung (nur Mobilfunk) und verwendet nur Audio. Das bedeutet, dass Live Relay mit jedem eingehenden Sprachanruf von jedem Telefon, einschliesslich Festnetz, funktioniert. Google betrachtet Live Relay als Alternative zu Real-Time-Text (RTT) und Relay Services. Live Relay könnte für alle Benutzer*innen nützlich sein. Haben Sie schon einmal einen wichtigen Anruf erhalten, können aber nicht aussteigen und sprechen? Mit Live Relay können Sie diesen Anruf entgegennehmen, indem Sie eingeben, anstatt zu sprechen. Google plant sogar, Echtzeit-Übersetzungen in Live Relay zu integrieren, um weitere Kommunikationsbarrieren abzubauen. Damit wäre es möglich jeden auf der Welt anzurufen und zu kommunizieren, unabhängig davon, welche Sprache er oder sie spricht. Die sprechende Person spricht in ihrer bevorzugten Sprache und der Text erscheint in der Sprache des Empfängers und umgekehrt. Projekt DIVA Projekt Diva, das für DIVersely Assisted steht, unterstützt Benutzer*innen bei der Eingabe der Google Assistant-Befehle, ohne ihre Stimme zu verwenden. Eine Person mit nonverbaler oder eingeschränkter Mobilität kann mithilfe eines externen Gerätes Google Assistant-Befehle auslösen. Das Team untersuchte verschiedene Auslösebefehle. Darunter das Drücken eines grossen Knopfes mit Kinn, Fuss oder sogar einem Biss. Nach monatelangem Brainstorming und Präsentationen in verschiedenen Bereichen der Barrierefreiheit und Technik baute das Team einen Prototyp und gewann einen Innovationswettbewerb für Barrierefreiheit. Die Lösung war eine Box, in die Sie einen Hilfsknopf über eine 3,5-mm-Buchse einsteckten. Das von der Schaltfläche ausgehende Signal wird dann in einen Befehl umgewandelt, der an den Google-Assistenten gesendet wird. Mit dem Hilfsknopf ist es nun möglich beispielsweise Musik auf herkömmlichen Geräten abzuspielen, ohne diese direkt bedienen zu müssen. So, wie es Giovanni, der Bruder des Entwicklers dieses Knopfes macht im Video: In Zukunft soll es mit dieser Technologie auch möglich sein weitere Objekte mit Tags zu versehen und jedem Tag einen Befehl zuzuweisen. Damit wird es beispielsweise möglich mittels einer Cartoon-Puppe einen Cartoon im Fernsehen einzuschalten oder durch eine physische CD Musik auf Ihrem Lautsprecher auszulösen. Google gibt Entwickler*innen alle technischen Details bekannt, damit sie ihr eigenes Project Diva-Gerät erstellen können! Ich hatte Gänsehaut beim Lesen dieser tollen Neuigkeiten und freue mich auf die weiteren Entwicklungen. Ich hoffe, es geht Ihnen genau so. Literatur und Links Protalinski, Emil (7.5.2019): Google unveils 3 accessibility projects that help people with disabilities online: https://venturebeat.com/2019/05/07/google-ai-accessibility-project-euphonia-diva-live-relay/
Quer essen, viel trinken und ausreichend Bewegung: Die Formel für einen gesunden Körper ist einfach. Trotzdem fällt es uns oft schwer, uns daran zu halten. Weshalb? Stress, Einsamkeit, Langeweile, Unwissen oder psychische, körperliche oder geistige Beeinträchtigungen können das Essverhalten stark beeinflussen. Übergewicht kann aber nicht nur das Wohlbefinden und die Gesundheit eines Menschen, sondern auch sein Selbstvertrauen, seine Selbstständigkeit und seine Beziehungen beeinträchtigen. Es ist daher verständlich, dass Angehörige und Fachpersonen Betreuung Klienten schützen möchten. Doch wie viel darf in das Essverhalten eingegriffen werden? Das Essverhalten ist ein höchstpersönliches Recht Das Essverhalten, wie viel und was ein Mensch essen möchte, gehört zu den höchstpersönlichen Rechten jedes Menschen. Höchstpersönliche Rechte sind solche, die «einer Person um ihrer Persönlichkeit willen zustehen». Diese Rechte können auch von handlungsunfähigen Personen wahrgenommen werden, falls sie urteilsfähig sind. Der rechtliche Vertreter ist bei solchen Geschäften nicht berechtigt, in Vertretung einer urteilsfähigen Person zu handeln. Es gilt demnach in einem ersten Schritt festzustellen, ob der Klient oder die Klientin urteilsfähig ist. Entscheidende Fragen dazu sind:
Nur der Arzt darf eine Diät anordnen Eine Diät kann nur dann gegen den Willen des Klienten umgesetzt werden, wenn er in dieser Angelegenheit nicht urteilsfähig ist und der Arzt eine Diät verordnet. Damit aber noch nicht genug: Es liegt dann in der Verantwortung der rechtlichen Vertretung (vgl. die Kaskade in Art. 378 ZGB), für den Klienten (nach dessen mutmasslichem Willen) über die Umsetzung der Anordnung zu entscheiden. Erst wenn die rechtliche Vertretung mit der ärztlichen Anordnung einverstanden ist, darf sie auch umgesetzt werden. Zwangsmassnahmen, also Durchsetzung gegen den erklärten Willen von solchen Massnahmen, sind nach ZGB nur möglich, wenn eine FU, eine fürsorgliche Unterbringung, besteht und die Zwangsmassnahme als solche medizinisch angeordnet ist (vgl. dazu Art. 434 ZGB.), ansonsten nur in Notfällen und bei Notstandssituationen. Wenn Eltern eine Diät wünschen - Beispiele aus der Praxis Zur Veranschaulichung folgen hier zwei Beispiele: Eltern (die gleichzeitig auch rechtliche Vertretungen sind) geben den Fachpersonen Betreuung einen Zettel, auf dem steht, was der Klient essen darf. In diesem Fall geschieht dies aus religiösen Gründen. Die Eltern erwarten von den Fachpersonen Betreuung, dass sie darauf achten, dass ihr Sohn, der Klient ist, kein Schweinefleisch isst, weil er von sich aus nicht darauf achten würde. Hier gilt: Unabhängig davon, ob der Klient urteilsfähig ist oder nicht, dürfen die Eltern oder rechtliche Vertretung nicht vorschreiben, was ihr erwachsener Sohn essen soll. Denn sowohl die Ernährung als auch die religiöse Zugehörigkeit sind höchstpersönliche Rechte, bei denen die gesetzlichen Vertreter nicht berechtigt sind, in Vertretung der urteilsfähigen Person zu handeln. Die Fachpersonen dürfen demzufolge dem Wunsch der Eltern nicht nachkommen, die Schweinefleischdiät umzusetzen. Falls der Betroffene es ausdrücklich wünscht, können die Fachpersonen ihn darauf hinweisen, in welchen Menüs Schweinefleisch enthalten ist. Und der Klient darf natürlich jederzeit von sich aus darauf verzichten. Die zuständige Bezugsperson ordnet an, dass die Klientin kleinere Portionen erhält, weil sie gesundheitliche Beschwerden bei der Klientin vermutet und aus Sorge, dass durch das Übergewicht weitere gesundheitliche Schäden entstehen können. Hier gilt: Eine Diät kann weder von der rechtlichen Vertretung, von Eltern, noch von Fachpersonen Betreuung angeordnet werden. Eine Anordnung der Diät ist nur dann möglich, wenn die drei folgenden Punkte erfüllt sind: 1. Der Klient ist nicht urteilsfähig. 2. Der Arzt verordnet eine Diät. 3. Die rechtliche Vertretung entscheidet sich für die Umsetzung der ärztlich angeordneten Diät. Aufklärung und eine gesunde Küche Der Spielraum der Institutionen und Fachpersonen ist, was Diäten angeht, klein. Das bedeutet aber nicht, dass sie keine Verantwortung übernehmen müssen. Die Frage, die sich daraus stellt, ist wie? Durch Aufklärung der Betroffenen und über eine gesunde Küche. Es ist wichtig, die Klienten über gesunde Ernährung und über die Konsequenzen einer einseitigen Ernährung und Übergewicht aufzuklären. Ausserdem sollte möglichst kreativ versucht werden, die Personen zu gesunder Ernährung zu motivieren. Ein ausgewogenes Ernährungskonzept der Küche und eine vielseitige, gesunde Menüauswahl tragen zu einer gesunden Ernährung bei. Doch wenn sich eine Person entscheidet, nicht mitzumachen, muss das respektiert werden. «Fachpersonen sind keine Polizisten, sondern Coaches, die Menschen auf ihrem Weg bestmöglich unterstützen» (Lauber 2017, S. 3). Um spätere Konflikte mit Angehörigen zu vermeiden, ist es sinnvoll Eltern und rechtliche Vertretungen schon beim Eintritt in die Institution über Ihre Rechte und deren Grenzen aufzuklären. Literatur und Links Lauber, Beatrice (2017): «Verbote schaffen kein Bewusstsein». In Insos. Online: https://www.insos.ch/assets/Downloads/INSOS-Magazin-1-2017-Ernaehrung.pdf (letzter Zugriff: 03.01.2019) Pro Infirmis: Höchstpersönliche Rechte. Online: https://www.proinfirmis.ch/behindertwastun/erwachsenenschutz/urteilsfaehigkeit-und-handlungsfaehigkeit.html (letzter Zugriff: 03.01.2019)
Wenn man eine Person in ihrer Entwicklung unterstützen möchte, sind Entwicklungstheorien von grosser Bedeutung. Die richtige Einschätzung des Entwicklungsstandes gibt Anhaltspunkte für die passende Unterstützungsleistung und liefert ausserdem Erklärungen für das Wahrnehmen und Verhalten eines Menschen. Geistige Behinderung bedeutet in erster Linie eine Beeinträchtigung oder Verlangsamung der kognitiven Entwicklung. «Unter kognitiver Entwicklung versteht man die Entwicklung all jener Funktionen, die dem Erkennen und Erfassen der Gegenstände und Personen der Umgebung und der eigenen Person gelten. Zu diesen Funktionen gehören Intelligenz bzw. Denken, Wahrnehmung, Problemlösen, Gedächtnis, Sprache etc.» (Stangl, 2018). Eine der weltweit bekanntesten Theorien zur Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten stammt vom Schweizer Jean Piaget (9.8.1896 in Neuchatel bis 16.9.1980 in Genf). Interessant ist die Frage, ob und wie kann die Kognitionstheorie nach Piaget auf Menschen mit geistigen Behinderungen angewendet werden? Und wie können Menschen mit geistigen Behinderungen folglich am besten in ihrer Entwicklung unterstützt werden? Kognitionstheorie nach Piaget: Wie entwickelt sich das Denkvermögen? Piaget betrachtete die geistige Entwicklung als einen Prozess der aktiven Konstruktion von Wissen in der Interaktion des Individuums mit der Umwelt. Wissen entsteht also im Zusammenspiel zwischen der Person und seiner Umgebung. Dabei sind zwei gegensätzliche Prozesse zentral: die Assimilation und die Akkommodation. · Assimilation: Der Mensch passt Umweltgegebenheiten an bestehende Handlungsmöglichkeiten/Erkenntnisfähigkeiten an. Er benutzt also die ihm zur Verfügung stehenden Mittel (seine kognitiven Mittel und seine Handlungsfähigkeiten), um die Umweltprobleme zu meistern. · Akkommodation: Der Mensch wandelt seine Handlungs- und Denkweisen den Umwelterfordernissen entsprechend an. Auf diese Weise erwirbt er neue motorische und/oder kognitive Fähigkeiten. Piaget ging davon aus, dass kognitive Fähigkeiten aufeinander aufbauen und sich in einer gewissen Reihenfolge bilden. Jedes nächsthöhere Stadium geht aus dem vorangehenden Stadium hervor. Unterschieden werden vier Hauptstadien der geistigen Entwicklung in der Kindheit und im Jugendalter, die im Folgenden beispielhaft erklärt werden. 1. Sensomotorische Stufe (0-1.5/2 Jahre) Das Verhalten in der sensomotorischen Phase entsteht ausschliesslich durch das Zusammenspiel von Wahrnehmungseindrücken und motorischer Aktivität. Das Baby hat angeborene Reflexmechanismen, wie zum Beispiel den Greifreflex, bei dem die Finger des Babys automatisch alles umschliessen, was mit seinen Handflächen in Berührung kommt. Es entdeckt einfache Reaktionen und schüttelt beispielsweise eine Rassel, damit es rasselt. Gegen Ende dieser Stufe erreicht das Kind die Erkenntnis, dass eine Rassel, die unter der Decke verschwindet, weiterhin existiert (das wird auch Objektpermanenz genannt). 2. Präoperative Stufe (1.5-6/7 Jahre) In dieser Stufe lernt das Kind, mithilfe von verinnerlichten Handlungen Probleme zu lösen. Das Denken verknüpft sich zunehmend mit der Sprache. Diese Stufe zeichnet sich beispielsweise aus durch: · Das Kind lernt zu sprechen. · Es orientiert sich an verinnerlichten Handlungsabläufen: Sonntag ist der Tag, an dem Eltern länger im Bett sind. · Das Kind ist selbstbezogen und versteckt sich zum Beispiel hinter seinen eigenen Händen. · Es erkennt Objekte anhand bestimmter Merkmale: Es fliegt, also ist es ein Vogel. · Es erkennt Ursache-Wirkungsketten, aber die genauen Umstände nicht: Das Plüschtier braucht Salbe, damit die Naht „heilt“. 3. Konkret-operative Stufe (6/7-11/12 Jahre) Das Denken ist weiterhin an anschaulich erfahrbare Inhalte gebunden, löst sich aber mehr und mehr von der momentanen Anschauung. Es werden nun verschiedene Merkmale eines Gegenstandes und Vorgangs gleichzeitig erfasst und zueinander in Beziehung gesetzt. Regeln beziehen sich jetzt auf die Relation zwischen zwei und mehr Begriffen. Das Kind denkt im Sinne verinnerlichten Handelns, kann vorausdenken und sein Handeln reflektierend steuern. Logische Schlussfolgerungen über Phänomene, die physische Objekte betreffen, und über konkrete Situationen werden möglich. Das Regelspiel wird zur vorherrschenden Spielform. 4. Formal-operative Stufe (ab 10/11 Jahre) Der Jugendliche kann mit abstrakten Inhalten wie Hypothesen gedanklich umgehen, Probleme theoretisch analysieren und (wissenschaftliche) Fragestellungen systematisch durchdenken. Er hat die höchste Form des logischen Denkens erreicht. Diese Stufe zeichnet sich bspw. durch folgende Punkte aus: · Abstraktes Denken · Schlussfolgerungen · Interpretationen · Hypothesen · Flexibles und wirkungsvolles Denken · Kombinationsanalyse von Möglichkeiten Anwendung: Kann diese Theorie bei Menschen mit geistiger Behinderung angewendet werden? In der Realität erweisen sich die einzelnen Entwicklungsstufen nicht immer als klar voneinander abgrenzbar oder in sich geschlossen und auch an den Altersangaben gibt es Kritik. Die Stufentheorie ist deshalb eher als eine idealtypische Grundform zu werten. Dennoch gilt sie bis heute als Grundlage für viele Forschungsprojekte und Förderkonzepte. Die Übertragung dieses Modells auf Menschen mit geistiger Behinderung funktioniert vor allem für Menschen mit einer leichteren geistigen Behinderung. Bei mittelgradig schweren und schweren Behinderungen ergeben sich Komplikationen bei der Übertragung, da die Entwicklungsverläufe stark schwanken. Obwohl es auch Menschen mit einer Behinderung gibt mit einem relativ homogenen Entwicklungsniveau, so bildet doch die Mehrheit von ihnen nicht alle geistigen Kompetenzen, die einer bestimmten Entwicklungsstufe zugerechnet werden können, gleichmässig aus, sondern sie entwickeln einzelne Teilfunktionen besser als andere. Bei Menschen mit einer leichteren Behinderung kann davon ausgegangen werden, dass die Stufenfolge irreversibel durchlaufen wird. Es zeigt sich jedoch, dass sie diesen Entwicklungsprozess wesentlich langsamer durchlaufen und sich die Möglichkeiten des konkret- und formal-operativen Denkens nicht umfassend aneignen können. Die Entwicklung kann somit am besten unterstützt werden, wenn man weiss, wo sich die Person befindet und gezielt die Funktionen unterstützen und festigen kann, die der Phase unmittelbar vor den ersten Defiziten angehört. Somit kann sichergestellt werden, dass nicht nur die Entwicklung einzelner Teilfunktionen, sondern die der kognitiven Fähigkeiten insgesamt gefördert wird. Literatur und Links:
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Sonja Gross Master of Arts in Erziehungswissenschaft
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