Jeder von uns verbindet mit dem Begriff «Geistige Behinderung» vermutlich etwas anderes. Aber wie wird geistige Behinderung überhaupt genau definiert? Und wer gilt eigentlich als geistig behindert und wer nicht? Auf diese komplexe Fragen möchte ich in diesem Artikel näher eingehen. Der Begriff geistige Behinderung Der Begriff «geistige Behinderung» wird erst seit Ende der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts verwendet. Gerne möchte ich die Entwicklung bis zu diesem Zeitpunkt kurz skizzieren, weil dadurch auch deutlich wird, wie sehr doch die Begriffe von Gesellschaft und Kultur geprägt werden. Menschen mit einer «geistigen Behinderung» gab es schon immer. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich die Bezeichnungen für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen immer wieder verändert. Bereits um Christi Geburt wurden solche Kinder als «Strafe der Götter» angesehen und bereits Neugeborene getötet. Wer am Leben blieb, wurde meist versklavt. Im Mittelalter sprach man von «Wechselbälgern»; so predigte etwa Luther, dass die betroffenen Kinder als Säuglinge vom Teufel ausgetauscht worden und «geistig Tote» seien. Vielfach wurden sie verstossen, verkauft und versklavt und in Rahmen von Hexenprozessen gequält und hingerichtet. Um zu überleben, mussten die Betroffenen betteln, zogen mit Gauklern umher und wurden als »Krüppel« oder »Missgeburten« zur Schau gestellt. Noch bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts war es üblich, für Menschen mit einer Beeinträchtigung Begriffe wie «Idioten», «Geistesschwache», «Imbezile» oder «Schwachsinnige» zu verwenden. Häufig wurden die Betroffenen entweder von ihren Familien versorgt oder in sogenannten Narrenhäusern oder Tollkoben untergebracht, in denen Geisteskranke wie auch Geistesschwache untergebracht wurden. Unter den Nationalsozialisten in Deutschland erfolgten 1920 und 1945 systematische Zwangsterilisationen und Tötungsaktionen von Kranken und Menschen mit körperlicher und geistiger Beeinträchtigung, deren Leben als »unwert« eingeordnet wurde. Im Rahmen des sog. »Euthanasie- und Gnadentodprogramms« wurde ihre Ermordung gezielt geplant, um die arische Rasse von jeglichem »Makel zu befreien«. Und noch heute sind die Folgen dieser Gräueltaten sichtbar: In Deutschland und Österreich gibt es im Vergleich zu anderen europäischen Staaten nur eine geringe Zahl von Menschen mit Beeinträchtigung, die vor dem Kriegsende 1945 geboren wurden. Im Jahr 1958 wird durch die deutsche Elternvereinigung Lebenshilfe der Begriff «geistige Behinderung» eingeführt – nicht zuletzt mit der Absicht, die Stigmatisierungen durch die bis dahin verwendeten Begriffe zu vermeiden. Heute werden die Begriffe «geistige Behinderung», «kognitive Behinderung» oder «kognitive Beeinträchtigung» oftmals gleichbedeutend verwendet. Wobei Betroffene häufig den Begriff Lernbeeinträchtigung vorziehen – was auch verständlich wird, wenn wir einen Blick auf die Diagnose, respektive die Diagnosesysteme werfen. Diagnose und Diagnosesysteme Die Wissenschaft, aber auch die Politik und Versicherungen arbeiten gerne mit eindeutigen Begriffen und Diagnosen, etwa um Vergleichsmöglichkeiten wissenschaftlicher Untersuchungen schaffen oder finanzielle Unterstützungen rechtfertigen zu können. Eine eindeutige und allgemein akzeptierte Definition davon, was eine geistige Behinderung eigentlich ist, ist jedoch schwierig. Denn diese umfasst ein weites Feld und keine einheitliche Gruppe mit fest umschreibbaren Eigenschaften. Einig ist man sich lediglich in der Annahme, dass geistige Behinderung gekennzeichnet ist durch eine tiefere Intelligenz sowie durch eine Beeinträchtigung der sozialen Kompetenz. Grundsätzlich gibt es zwei verschiedene Sichtweisen auf geistige Behinderung:
Die Klinisch-psychologische Sichtweise Klinisch-psychologisch besteht das Ziel darin, international übereinstimmende Kriterien und Bezeichnungen für psychische Störungen zu erstellen, um dadurch zu einem länderübergreifend einheitlichen Verständnis beizutragen und die wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse über die ganze Welt hinweg vergleichbar und anwendbar zu machen. Für diesen Zweck wurden Klassifikationssysteme erarbeitet. Dazu gehören das ICD-10 (internationale Klassifikation psychischer Störungen) und das DSM-IV (diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen). Als geistig behindert gilt demnach, wer einen IQ unter einem festgelegten Wert hat. Dabei gibt es aber verschiedene Problematiken bei der Diagnose: Die dafür festgelegten Werte im ICD-10 und im DSM-IV sind nicht deckungsgleich. Darüber hinaus sind sie sehr hoch: Im ICD-10 liegt der Wert bei 70. Dieser Wert entspricht jedoch dem Niveau der 6. Klasse, weshalb diese Definition von geistiger Behinderung eher befremdlich erscheint. Und zu Recht bestehen Menschen mit einer «geistigen Behinderung» vielfach darauf, dass sie eine Lernbehinderung haben und keine geistige Behinderung. Weitere Problematiken ergeben sich aus der Testsicherheit: Je nach Test fällt die Einstufung anders aus und je tiefer der IQ ist, desto unzuverlässiger bzw. unzureichender ist die Aussage der Tests. Ausserdem sind zwar soziale Kompetenzen zur Charakterisierung einer geistigen Behinderung definiert, jedoch lassen sich diese nur schwer konkretisieren und diagnostisch erfassen. Und schliesslich muss darauf hingewiesen werden, dass geistige Behinderung weder eine Krankheit noch eine psychische Störung ist. Der Widerspruch, diese dennoch in einem Klassifikationssystem für psychische Störungen zu erfassen, ergibt sich wahrscheinlich aus einer Übersetzungsproblematik. Die schulisch-sonderpädagogische Sichtweise Diese Sichtweise stammt, wie es der Titel bereits vermuten lässt, aus dem schulischen Bereich. Vor diesem Hintergrund wird als geistig behindert angesehen, wer über «erheblich unter der altersgemässen Erwartungsnorm liegende Lernverhaltensweisen und Lernmöglichkeiten verfügt» und nicht mehr ausreichend in einer regulären Schule gefördert werden kann. Ziel dieser Sichtweise ist, dass die Betroffenen spezielle Lernziele, Lehr- und Unterrichtsmaterialien ausserhalb der regulären Schule erhalten. Die Problematik aufgrund dieser Diagnose und Definition besteht darin, dass ob jemand als geistig behindert gilt, in hohem Masse davon abhängig ist, wie viele Sonderschulplätze in der gegebenen Region vorhanden sind. So zeigt sich, dass es in Regionen, in denen es weniger Sonderschulen gibt, auch weniger Kinder mit einer geistigen Behinderung gibt. Was bestimmt nicht an der Anzahl der Kinder liegt. Fazit Beim Schreiben dieses Artikels wurde mir einmal mehr deutlich, wie sehr solche Kategorien wie «geistig behindert» künstlich konstruiert sind. Ich schliesse mich Hermann Meyer (2003) an, der Kritik an beiden Diagnosesystemen übt und schreibt: Niemand sollte als geistig behindert bezeichnet werden, weil er eine entsprechende Schule besucht hat oder in einer Behinderteneinrichtung wohnt oder arbeitet. Geistige Behinderung sollte aber auch nicht mit einer Störung oder einer klinischen Krankheit gleichgesetzt werden, wie es in den Klassifikationssystemen der Fall ist. Das bedeutet keineswegs, dass der Begriff nicht wichtig ist oder nicht mehr verwendet werden soll, aber es zeigt sehr wohl, wie wichtig es ist, stets sorgfältig und bewusst mit diesem Begriff umzugehen und auch immer wieder zu hinterfragen, ob, wo und wann er geeignet bzw. gerechtfertigt ist. Literatur und Links Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10, 2020). DIMDI. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information. Online: https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2020/ (letzter Zugriff am 23.9.2020) Meyer, Hermann (2003): Geistige Behinderung – Terminologie und Begriffsverständnis. In: Irblich, Dieter/Stahl, Burkhard (Hrsg.): Menschen mit geistiger Behinderung. Bern: Hogrefe.
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Sonja Gross Master of Arts in Erziehungswissenschaft
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