Karl, ein Bewohner des stationären Wohnheims, kommt mit dem Wunsch zur Betreuerin, dass seine Freundin Lisa in seinem Zimmer übernachtet. Karl ist 25 und Lisa 19 Jahre alt. Sie sind seit ein paar Wochen ein Paar und schmusen gerne miteinander. Beide haben eine geistige Behinderung. Soll die Betreuerin dem Wunsch nachkommen? Was, wenn sie Sex haben und Lisa womöglich schwanger wird? Müssen die Eltern zuerst gefragt oder zumindest informiert werden? Sexualität im Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und Schutz Menschen mit geistigen Behinderungen haben ein Recht auf sexuelle Entfaltung im Rahmen ihrer Möglichkeiten, Fähigkeiten und Bedürfnisse. Die sexualbiologische Entwicklung verläuft in den meisten Fällen altersgemäss und unabhängig von intellektuellen Fähigkeiten. Bedürfnisse und Wünsche der Klient*innen zu Partnerschaft, Sexualität und Liebe müssen deshalb ernstgenommen werden und es muss ihnen nachgegangen werden. Dabei kann ein Spannungsfeld entstehen zwischen der Wahrung des Selbstbestimmungsrechts der Klient*innen und dem Schützen vor Grenzverletzungen. Denn einerseits sollen erwachsene Menschen selbst bestimmen und gleichzeitig sollen sie vor möglichen Übergriffen und schlechten Erfahrungen geschützt werden. Im Folgenden fasse ich für Sie die grundlegendsten Gesetze zusammen, an denen Sie sich in dieser oder einer ähnlichen Situation orientieren können. Wer darf Sex haben? In der Bundesverfassung untersteht das Recht auf Sexualität dem Grundrecht der persönlichen Freiheit (vgl. Art. 10). Ausserdem handelt es sich um ein höchstpersönliches Recht und um ein Menschenrecht, das auch in der BRK verankert ist. Alle, die urteilsfähig sind, dürfen selber über ihre Sexualität entscheiden. Es folgen zwei wichtige Fragen, um zu entscheiden, ob jemand urteilsfähig ist, sind:
Nicht immer kann eine Person das direkt so formulieren. Manchmal ist Urteilsfähigkeit deshalb schwierig abzuschätzen und nachzuweisen. In diesen Fällen ist es wichtig, auch kleine Hinweise wahrzunehmen. Zum Beispiel: Lisa hat ihre Fingernägel rot angemalt. „Lisa, ich sehe, du hast deine Nägel rot angemalt?“ „Ja…“ „Wieso?“ „Ich glaube, das gefällt Karl.“ Das ist ein Hinweis auf ihre Urteilsfähigkeit und ihren Willen, mit Karl zusammen zu sein. Solche und ähnliche Hinweise sollten gesammelt und gut dokumentiert werden. Sind sich die Fachpersonen Betreuung ganz und gar unsicher, ob die Person urteilsfähig ist, kann ein*e Sozialpsychiater*in hinzugezogen werden. Die sexuelle Selbstbestimmung kann in drei Fällen eingeschränkt werden:
Wer darf schwanger werden? Wenn eine Frau schwanger werden möchte, dann darf sie das. Wichtig ist, dass die Person urteilsfähig gemacht wird, indem sie objektiv über die Folgen informiert wird. Bewohnende sollten beispielsweise auch informiert werden über den möglichen Ausschluss aus der Institution oder darüber, dass ihnen möglicherweise das Sorgerecht entzogen wird und das Kind fremdplatziert werden könnte. Welche Infos dürfen weitergegeben werden? Eltern haben, in der Funktion der Elternschaft, nie ein Recht auf Informationen. Nur wenn der Betroffene das von sich aus wünscht, dürfen Infos an die Eltern weitergegeben werden. Angehörigenarbeit findet also nur statt, wenn der Klient oder die Klientin das möchte. Ob der rechtliche Beistand informiert werden darf, hängt von der Art der Beistandschaft ab und davon, ob der Klient oder die Klientin auch wirklich urteilsunfähig ist. Nur dann, wenn der Klient oder die Klientin nicht urteilsfähig ist, darf der Beistand ohne ausdrücklichen Wunsch des/der Betroffenen informiert werden. Ein Auskunftsrecht oder -pflicht besteht, wenn dienstlich gewonnene Kenntnisse ein Tätigwerden der KESB zum Schutz des Klienten/der Klientin oder einer dritten Person notwendig machen. Welches sind die wichtigsten Gesetzesartikel? Sexuelle Handlungen mit Kindern (Art. 187 StGB) Wer mit einem Kind unter 16 Jahren eine sexuelle Handlung vornimmt, es zu einer solchen Handlung verleitet oder es in eine sexuelle Handlung einbezieht, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit einer Geldstrafe bestraft. Die Handlung ist jedoch nicht strafbar, wenn der Altersunterschied zwischen den Beteiligten nicht mehr als drei Jahre beträgt. Sexuelle Handlungen mit Abhängigen (Art. 188 StGB) Auch Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren stehen noch unter besonderem Schutz. Wenn etwa Erwachsene eine Machtposition ausnutzen, um Minderjährige dazu zu bringen, mit ihnen Sex zu haben, etwa als Lehrer, Lehrmeister oder Chef, machen sie sich genauso strafbar. Ihnen droht eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe. Sexuelle Nötigung (Art. 189) Wer eine Person zur Duldung einer beischlafähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung nötigt, bspw. indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder mit einer Geldstrafe bestraft. Schändung (Art. 191) Wer eine urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person in Kenntnis ihres Zustandes zum Beischlaf, zu einer beischlafähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung missbraucht, wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren oder mit einer Geldstrafe bestraft. Beispiele: Sexuelle Beziehung von nicht geistig beeinträchtigten Menschen zu geistig beeinträchtigen Menschen können unter diesen Artikel fallen, oder wenn dich jemand betrunken macht und dann Sex mit dir hat. Sexuelle Handlungen mit Anstaltspfleglingen, Gefangenen und Beschuldigten (Art. 192 StGB) Wer unter Ausnützung der Abhängigkeit einen Anstaltspflegling, Anstaltsinsassen, Gefangenen, Verhafteten oder Beschuldigten veranlasst, eine sexuelle Handlung vorzunehmen oder zu dulden, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. Hat die verletzte Person mit dem Täter die Ehe geschlossen oder ist sie mit ihm eine eingetragene Partnerschaft eingegangen, so kann die zuständige Behörde von der Strafverfolgung, der Überweisung an das Gericht oder der Bestrafung absehen. Ausnützung der Notlage (Art. 193) Wer eine Person veranlasst, eine sexuelle Handlung vorzunehmen oder zu dulden, indem er eine Notlage oder eine durch ein Arbeitsverhältnis oder eine in anderer Weise begründete Abhängigkeit ausnützt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. Ist die verletzte Person mit dem Täter eine Ehe oder eine eingetragene Partnerschaft eingegangen, so kann die zuständige Behörde von der Strafverfolgung, der Überweisung an das Gericht oder der Bestrafung absehen. Exhibitionismus / sexuelle Belästigung (Art. 194/198) Wer eine exhibitionistische Handlung vornimmt, wird, auf Antrag, mit Gefängnis bis zu sechs Monaten oder mit Bussen bestraft. Wer vor jemandem, der dies nicht erwartet, eine sexuelle Handlung vornimmt und dadurch Ärgernis erregt, wer jemanden tätlich oder in grober Weise durch Worte sexuell belästigt, wird, auf Antrag, mit einer Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen bestraft. Pornographie (Art. 197) Wer pornographische Schriften, Ton- oder Bildaufnahmen, Abbildungen, andere Gegenstände solcher Art oder pornographische Vorführungen einer Person unter 16 Jahren anbietet, zeigt, überlässt, zugänglich macht oder durch Radio oder Fernsehen verbreitet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. Beispiel: Der Vater eines 15-jährigen Schulkollegen macht sich strafbar, wenn er Pornoheftli oder Pornovideos auf dem Stubentisch herumliegen lässt, obwohl er weiss, dass sein Sohn immer Freunde nach Hause bringt. Vergewaltigung (Art. 190) Wer eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren bestraft. Beispiele: Ein ehemaliger Freund zwingt dich – unter Drohung, er würde dich sonst umbringen – mit ihm zu schlafen. Merkliste - wann und zwischen wem ist Sex erlaubt?
Wichtig ist: Aufklären! Urteilsfähigkeit ist keine andauernde persönliche Eigenschaft, sondern sie hängt damit zusammen, wie viele Informationen jemand hat und damit, wie gut er sich und seinen Körper kennt. Um die Selbstbestimmung der Klient*innen zu erhöhen, ist daher Aufklärungsarbeit wichtig! Literatur und Links: Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, ZGB, online: https://www.bj.admin.ch/bj/de/home/gesellschaft/gesetzgebung/kesr.html
2 Kommentare
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Sonja Gross Master of Arts in Erziehungswissenschaft
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