Sowohl die Gesamtbevölkerung als auch Menschen mit einer Behinderung werden immer älter. Wurden die Menschen mit geistigen Behinderungen 1930 durchschnittlich 20 Jahre alt, so werden sie heute über 70 (vgl. insieme, online). Damit stellen sich neue Fragen: Wie und nach welchen agogischen Grundsätzen sollen ältere Menschen begleitet werden? Im Folgenden möchte ich euch gerne die Alterstheorien vorstellen, die in der Literatur massgebliche Bedeutung erlangt haben. 1. Das Defizitmodell: Älter werden gleich schwächer werden Das bekannteste und am meisten kritisierte Modell ist das Defizitmodell der geistigen Entwicklung im Alter. Das Modell lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Die Hypothese lautet: Der physiologische, psychische und körperliche Allgemeinzustand würde sich im Alter auf allen Ebenen verschlechtern. Dies ist genetisch so bestimmt und der allmähliche Abbau ist unumkehrbar. 2. Die Aktivitätstheorie: Ältere Menschen sind dann glücklich, wenn sie aktiv sind Die Aktivitätstheorie: Ältere Menschen sind dann glücklich, wenn sie aktiv sind (Tartler, 1961) Die Aktivitätstheorie besagt, dass der alternde Mensch aktiv sein möchte und soziales Teilhaben anstrebt. Die Hypothese lautet: Wer aktiv ist, ist zufrieden. Der Mensch ist nur glücklich und zufrieden, wenn er aktiv ist, etwas leisten kann, Aufgaben hat und gebraucht wird. Im Gegensatz dazu ist der Mensch, der nicht mehr «gebraucht« wird, der keine »Funktion« mehr in der Gesellschaft hat, unglücklich und unzufrieden. »Optimales Altern« ist somit von der Weiterführung eines aktiven Lebensstils und dem Aufrechterhalten der eigenen sozialen Kontakte älterer Menschen abhängig. Um glücklich zu altern werden die Aktivitäten des mittleren Erwachsenenalters so lange wie möglich beibehalten. Für Aktivitäten, die man wie die Berufstätigkeit aufgeben muss oder für Freunde und geliebte Menschen, die durch den Tod verloren gehen, findet man Ersatz. In verschiedenen Studien konnte zum Einen bestätigt werden, dass Aktivität positive Auswirkungen auf das Selbstbild älterer Menschen habe. Und zum Anderen wurde nachgewiesen, dass ein positives Selbstbild die wichtigste Voraussetzung für Lebenszufriedenheit und damit für ein »erfolgreiches Altern« ist. Diese Theorie wurde bis heute vielfach überarbeitet. Dabei wird vor allem eins deutlich: Damit ältere Menschen zufrieden sind, müssen die gewünschte und die tatsächlich realisierte soziale Teilhabe übereinstimmen. 3. Disengagementtheorie: Ältere Menschen möchten ihre Ruhe (Cumming & Henry, 1961) Diese Theorie steht als Gegenstück zur Aktivitätstheorie, in der der alte Mensch mit Angeboten, sich aktiv zu beschäftigen, zum Teil überhäuft wird. Übersetzt bedeutet der Begriff Disengagement «Rückzug». Der Rückzug aus gesellschaftlichen und sozialen Verpflichtungen im Alter wird als durchaus normal angesehen. Am deutlichsten wird der Rückzug älterer Menschen beim Austritt aus dem Erwerbsleben. Der Rückzug findet aber immer von beiden Seiten aus statt: die Gesellschaft zieht sich vom Individuum zurück und umgekehrt. Aktiv bleiben bis ins hohe Alter vereinbart sich nicht mit dem nahen Lebensende. Die Disengagementtheorie wird häufig als direkter Gegenspieler zur Aktivitätstheorie gesehen. Die Entwicklung beider Theorien verlief aber fast gleichzeitig. In den Überarbeitungen wird deutlich: Lebenszufriedenheit im Alter resultiert aus einer höchst individuellen Auseinandersetzung mit den Veränderungen im sozialen Umfeld. Das Resultat dieser Auseinandersetzung lässt sich nicht bei allen Menschen als soziales Disengagement beschreiben. 4. Kontinuitätstheorie: Es ist wichtig im Alter seine Gewohnheiten aufrechtzuerhalten Die Kontinuitätstheorie verbindet die Aktivitäts- und die Disengagementtheorie. Denn die Hypothese lautet: Menschen möchten auch im Alter ihren Lebensstil aufrecht erhalten. Dies bedeutet, dass häusliche Menschen auch im Alter zum Rückzug tendieren und diesen als Erleichterung empfinden, während aktive Menschen auch im Alter viele soziale Kontakte benötigen. 5. Kompetenztheorie: Lebensqualität durch die Passung von Person und Umwelt (Bspw. Olbrich, 1987 oder Baltes & Baltes, 1990) Diese Theorie versteht Altern als dynamischen Anpassungsprozess. Erfolgreiches Altern und Zufriedenheit im Alter wird mit der Passung von Person und Situation in Zusammenhang gebracht. Das bedeutet, die Anforderungen einer Situation müssen mit den Ressourcen der Person übereinstimmen. Dementsprechend wird unter «Kompetenz» die Balance zwischen den Anforderungen einer gegebenen Situation und den individuellen Ressourcen verstanden. Um eine möglichst optimale Passung mit der Umwelt herzustellen, setzt der ältere Mensch seine individuellen Ressourcen ein. Damit gemeint sind seine eigenen Fähigkeiten, aber auch Unterstützungsleistungen, wie beispielsweise ein Rollstuhl oder das Annehmen der logopädischen Therapie. Eine weitere wichtige Massnahme ist die «Selektion» – darunter verstanden wird die Auswahl von Zielen (vgl. SOK-Modell nach Freund, Baltes, 2002). Das macht den älteren Menschen kompetent – deshalb Kompetenztheorie. Das Ausnützen der eigenen Ressourcen steht in einem hohen Zusammenhang mit der eigenen Lebensqualität. «Alt sein ist eine herrliche Sache, wenn man nicht verlernt hat, was anfangen heisst.» Martin BuberSo gegensätzlich die Theorieansätze sind, so unterschiedlich sind wir Menschen. Das Einzige, was uns allen gleich ist, ist, dass wir älter werden. Sie haben es bestimmt schon vermutet: Wie ältere Menschen optimal begleitet werden sollen, kann deshalb nicht so leicht verallgemeinert werden. Zusammenfassend können wir jedoch festhalten: Ältere Menschen sollten die Möglichkeit haben, aktiv zu sein, wenn sie das Bedürfnis danach haben und die Möglichkeit sich zurückzuziehen, wenn sie ihre Ruhe wünschen. Unterstützen Sie ältere Menschen dabei, ihre Lebensgewohnheiten und Routinen soweit als möglich aufrechtzuerhalten. Helfen Sie ihnen ihre individuellen Ressourcen und Fähigkeiten neu zu entdecken, um mit den Herausforderungen umzugehen. Denn eine hohe Lebensqualität und Zufriedenheit entstehen dann, wenn die eigenen Ressourcen genutzt werden können und die Anforderungen einer Situation mit diesen bewältigt werden können. Literatur und Links Cumming, E. & Henry, W.E. (1961). Growing old: the process of disengagement. New York: Basic Books. Freund, A. M. & Baltes, P. B. (2002). Life-management strategies of selection, optimization, and compensation: Measurement by self-report and construct validity. Journal of Personality and Social Psychology, 82, 642–662. Fleischmann, Ulrich M. (2000): Gerontopsychologie. Online: https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/gerontopsychologie/5767. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg. Letzter Zugriff: 19.11.2018 Tartler, R. (1961). Das Altern in der modernen Gesellschaft. Stuttgart: Enke. Insieme: Alt werden. Online: http://insieme.ch/leben-im-alltag/alt-werden (letzter Zugriff: 19.11.2018).
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Sonja Gross Master of Arts in Erziehungswissenschaft
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