Behinderteninstitutionen sind herausgefordert: Selbstbestimmung von Klient*innen mit kognitiven Beeinträchtigungen auf der einen Seite und Sicherheit sowie eine gelingende Zusammenarbeit mit deren Angehörigen auf der anderen Seite.
Conceptera begleitet und berät soziale Institutionen bei der Entwicklung einer Haltung sowie von Handlungsgrundlagen zu diesem Thema. Dabei spielt das Erwachsenenschutzgesetz eine entscheidende Rolle. Für Magazin Inside der Stiftung arwo hat Sonja Gross im Juni 2021 ein Interview gegeben: Zur Person: Sonja Gross (31) hat Erziehungswissenschaft studiert und führt ihr eigenes Unternehmen Conceptera, eine Fachstelle für Konzeptarbeit im Sozialbereich. Der Geschäftsführer der arwo sagt selbstkritisch, dass die arwo die Änderungen im neuen Erwachsenenschutzrecht im Alltag noch zu wenig umgesetzt hat. Sie unterstützen Stiftungen in diesem Prozess. Wurde die Gesetzesänderung anderswo besser umgesetzt? Sonja Gross: Ich kenne keine Institution, die sie vollumfänglich super umgesetzt hat. Dafür hätte es wohl eine grössere Schulungsaktion der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) gebraucht. Wie kamen Sie dazu, Unternehmen bei der Umsetzung der neuen Gesetzesgrundlage zu unterstützen? Ich kam über die Konzeptarbeit dazu und unterstütze Stiftungen bei der Erarbeitung der Grundlagen der Begleitung und Betreuung. Eine vorhandene Grundlage alleine reicht jedoch nicht: Es ist wichtig nicht nur die Angestellten zu schulen, sondern auch die Angehörigen und die Betroffenen aufzuklären. Was sind die Hauptthemen, die im Zusammenhang mit der Selbstbestimmung immer wieder zu Unsicherheiten führen? Die Kleidung ist immer wieder ein Thema. Auch der Umgang mit der Sexualität ist heikel. Angehörigen argumentieren manchmal damit, ihr erwachsenes Kind hätte immer noch den Entwicklungsstand eines Siebenjährigen. Das stimmt, doch der Körper hat sich trotzdem entwickelt und damit bei Vielen auch die Lust. Vor allem ältere Angehörige haben zu diesem Thema öfters eine konservative Haltung. Aus rechtlicher Sicht ist es jedoch eine klare Sache: Sexualität gehört in den Bereich der «höchstpersönlichen Rechte, die einer Person um ihrer Persönlichkeit willen zustehen». Diese Rechte können auch von handlungsunfähigen Personen, zum Beispiel von Personen mit einer umfassenden Beistandschaft oder von minderjährigen Personen, wahrgenommen werden, falls sie urteilsfähig sind und durch niemanden vertreten werden. Wer entscheidet, ob eine Person urteilsfähig ist, also die Tragweite seines eigenen Handelns «vernunftgemäss» einschätzen kann? Grundsätzlich geht man von der Urteilsfähigkeit aus und muss begründen, wenn jemand in einer Sache nicht urteilsfähig ist. Deshalb, und weil Urteilsfähigkeit immer an eine spezifische Fragestellung und Entscheidung gebunden ist sowie sich verändern kann, kann die Urteilsfähigkeit einer Person auch nicht im Dispositiv (der von der KESB verfassten Anordnung in der Ernennungsurkunde, Anm. d. Red) festgehalten werden. Sondern sie muss situativ, am besten über verschiedene Zeitpunkte hinweg, beobachtet, erfragt und erhoben werden. Im Alltag ist die Urteilsfähigkeit zentral. Wenn zum Beispiel eine Begleitperson mit einem Klienten in einem Restaurant isst, kann er grundsätzlich selbst entscheiden, was er bestellt. Hat er aber eine lebensbedrohliche Allergie gegen Nüsse und will eine Nusstorte bestellen, muss die Begleitperson eingreifen, weil der Klient offensichtlich nicht einschätzen kann, was geschehen kann, wenn er den Kuchen isst. Beim Thema Freundschaft und Sexualität scheint es schwieriger zu sein, die Urteilsfähigkeit herauszufinden … Aber auch da gilt es zu bedenken, dass Selbstbestimmung ein Grundrecht ist und dass gemäss Bundesverfassung Freiheit und Selbstbestimmung die Regel und Beschränkung die Ausnahme sind. Will jemand zum ersten Mal beim Freund oder der Freundin übernachten, macht es allerdings Sinn im Gespräch vorgängig herauszufinden, ob beide dasselbe wollen und niemand vom anderen unter Druck gesetzt wird. Da die Einschätzung der Urteilsfähigkeit nicht in jedem Fall auf Anhieb eindeutig ist, müssen die Fachpersonen besonders gut hinschauen, reflektieren und dokumentieren. Auch andere Themen der Selbstbestimmung wären durchs Erwachsenenschutzrecht klar geregelt und sind trotzdem (noch) nicht umgesetzt – warum? Warum man dies nicht früher und konsequenter angegangen ist, kann ich nicht beurteilen. Ich vermute, dass es mit der gewissen Komplexität des Gesetzes zusammenhängt. Das neue Erwachsenenschutzgesetz von einem Tag auf den anderen konsequent umzusetzen, wäre allerdings eine Überforderung für alle Beteiligten auch für die Klient*innen. Viele, vor allem ältere Personen, haben früher nicht gelernt, selbst zu entscheiden und würden sich unsicher und überfordert fühlen, wenn sie auf einmal so vieles selbst bestimmen müssten. Auch die Angehörigen würde man vor den Kopf stossen, wenn man die Selbstbestimmung von einem Tag auf den andern umsetzen würde. Es ist ein Prozess, der Befähigung der Beteiligten, Vertrauen und Zeit braucht.
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Sonja Gross Master of Arts in Erziehungswissenschaft
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