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Was ist geistige Behinderung?

10/2/2021

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Jeder von uns verbindet mit dem Begriff «Geistige Behinderung» vermutlich etwas anderes. Aber wie wird geistige Behinderung überhaupt genau definiert? Und wer gilt eigentlich als geistig behindert und wer nicht?
Auf diese komplexe Fragen möchte ich in diesem Artikel näher eingehen. 
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​Der Begriff geistige Behinderung
Der Begriff «geistige Behinderung» wird erst seit Ende der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts verwendet. Gerne möchte ich die Entwicklung bis zu diesem Zeitpunkt kurz skizzieren, weil dadurch auch deutlich wird, wie sehr doch die Begriffe von Gesellschaft und Kultur geprägt werden.
Menschen mit einer «geistigen Behinderung» gab es schon immer. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich die Bezeichnungen für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen immer wieder verändert. Bereits um Christi Geburt wurden solche Kinder als «Strafe der Götter» angesehen und bereits Neugeborene getötet. Wer am Leben blieb, wurde meist versklavt. Im Mittelalter sprach man von «Wechselbälgern»; so predigte etwa Luther, dass die betroffenen Kinder als Säuglinge vom Teufel ausgetauscht worden und «geistig Tote» seien. Vielfach wurden sie verstossen, verkauft und versklavt und in Rahmen von Hexenprozessen gequält und hingerichtet. Um zu überleben, mussten die Betroffenen betteln, zogen mit Gauklern umher und  wurden als »Krüppel« oder »Missgeburten« zur Schau gestellt.
Noch bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts war es üblich, für Menschen mit einer Beeinträchtigung Begriffe wie «Idioten», «Geistesschwache», «Imbezile» oder «Schwachsinnige» zu verwenden. Häufig wurden die Betroffenen entweder von ihren Familien versorgt oder in sogenannten Narrenhäusern oder Tollkoben untergebracht, in denen Geisteskranke wie auch Geistesschwache untergebracht wurden.
Unter den Nationalsozialisten in Deutschland erfolgten 1920 und 1945 systematische Zwangsterilisationen und Tötungsaktionen von Kranken und Menschen mit körperlicher und geistiger Beeinträchtigung, deren Leben als »unwert« eingeordnet wurde.  Im Rahmen des sog. »Euthanasie- und Gnadentodprogramms« wurde ihre Ermordung gezielt geplant, um die arische Rasse von jeglichem »Makel zu befreien«. Und noch heute sind die Folgen dieser Gräueltaten sichtbar: In Deutschland und Österreich gibt es im Vergleich zu anderen europäischen Staaten nur eine geringe Zahl von Menschen mit Beeinträchtigung, die vor dem Kriegsende 1945 geboren wurden.
Im Jahr 1958 wird durch die deutsche Elternvereinigung Lebenshilfe der Begriff «geistige Behinderung» eingeführt – nicht zuletzt mit der Absicht, die Stigmatisierungen durch die bis dahin verwendeten Begriffe zu vermeiden.
Heute werden die Begriffe «geistige Behinderung», «kognitive Behinderung» oder «kognitive Beeinträchtigung» oftmals gleichbedeutend verwendet. Wobei Betroffene häufig den Begriff Lernbeeinträchtigung vorziehen – was auch verständlich wird, wenn wir einen Blick auf die Diagnose, respektive die Diagnosesysteme werfen.

Diagnose und Diagnosesysteme
Die Wissenschaft, aber auch die Politik und Versicherungen arbeiten gerne mit eindeutigen Begriffen und Diagnosen, etwa um Vergleichsmöglichkeiten wissenschaftlicher Untersuchungen schaffen oder finanzielle Unterstützungen rechtfertigen zu können. Eine eindeutige und allgemein akzeptierte Definition davon, was eine geistige Behinderung eigentlich ist, ist jedoch schwierig. Denn diese umfasst ein weites Feld und keine einheitliche Gruppe mit fest umschreibbaren Eigenschaften.
Einig ist man sich lediglich in der Annahme, dass geistige Behinderung gekennzeichnet ist durch eine tiefere Intelligenz sowie durch eine Beeinträchtigung der sozialen Kompetenz. Grundsätzlich gibt es zwei verschiedene Sichtweisen auf geistige Behinderung:
  1. Klinisch-psychologische Sichtweise
  2. Schulisch-sonderpädagogische Sichtweise
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Die Klinisch-psychologische Sichtweise
Klinisch-psychologisch besteht das Ziel darin, international übereinstimmende Kriterien und Bezeichnungen für psychische Störungen zu erstellen, um dadurch zu einem länderübergreifend einheitlichen Verständnis beizutragen und die wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse über die ganze Welt hinweg vergleichbar und anwendbar zu machen.
Für diesen Zweck wurden Klassifikationssysteme erarbeitet. Dazu gehören das ICD-10 (internationale Klassifikation psychischer Störungen) und das DSM-IV (diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen).
Als geistig behindert gilt demnach, wer einen IQ unter einem festgelegten Wert hat. Dabei gibt es aber verschiedene Problematiken bei der Diagnose:
Die dafür festgelegten Werte im ICD-10 und im DSM-IV sind nicht deckungsgleich. Darüber hinaus sind sie sehr hoch: Im ICD-10 liegt der Wert bei 70. Dieser Wert entspricht jedoch dem Niveau der 6. Klasse, weshalb diese Definition von geistiger Behinderung eher befremdlich erscheint. Und zu Recht bestehen Menschen mit einer «geistigen Behinderung» vielfach darauf, dass sie eine Lernbehinderung haben und keine geistige Behinderung.
Weitere Problematiken ergeben sich aus der Testsicherheit: Je nach Test fällt die Einstufung anders aus und je tiefer der IQ ist, desto unzuverlässiger bzw. unzureichender ist die Aussage der Tests. Ausserdem sind zwar soziale Kompetenzen zur Charakterisierung einer geistigen Behinderung definiert, jedoch lassen sich diese nur schwer konkretisieren und diagnostisch erfassen.
Und schliesslich muss darauf hingewiesen werden, dass geistige Behinderung weder eine Krankheit noch eine psychische Störung ist. Der Widerspruch, diese dennoch in einem Klassifikationssystem für psychische Störungen zu erfassen, ergibt sich wahrscheinlich aus einer Übersetzungsproblematik.

Die schulisch-sonderpädagogische Sichtweise
Diese Sichtweise stammt, wie es der Titel bereits vermuten lässt, aus dem schulischen Bereich. Vor diesem Hintergrund wird als geistig behindert angesehen, wer über «erheblich unter der altersgemässen Erwartungsnorm liegende Lernverhaltensweisen und Lernmöglichkeiten verfügt» und nicht mehr ausreichend in einer regulären Schule gefördert werden kann. Ziel dieser Sichtweise ist, dass die Betroffenen spezielle Lernziele, Lehr- und Unterrichtsmaterialien ausserhalb der regulären Schule erhalten.
Die Problematik aufgrund dieser Diagnose und Definition besteht darin, dass ob jemand als geistig behindert gilt, in hohem Masse davon abhängig ist, wie viele Sonderschulplätze in der gegebenen Region vorhanden sind. So zeigt sich, dass es in Regionen, in denen es weniger Sonderschulen gibt, auch weniger Kinder mit einer geistigen Behinderung gibt. Was bestimmt nicht an der Anzahl der Kinder liegt.

Fazit
Beim Schreiben dieses Artikels wurde mir einmal mehr deutlich, wie sehr solche Kategorien wie «geistig behindert» künstlich konstruiert sind. Ich schliesse mich Hermann Meyer (2003) an, der Kritik an beiden Diagnosesystemen übt und schreibt: Niemand sollte als geistig behindert bezeichnet werden, weil er eine entsprechende Schule besucht hat oder in einer Behinderteneinrichtung wohnt oder arbeitet. Geistige Behinderung sollte aber auch nicht mit einer Störung oder einer klinischen Krankheit gleichgesetzt werden, wie es in den Klassifikationssystemen der Fall ist. Das bedeutet keineswegs, dass der Begriff nicht wichtig ist oder nicht mehr verwendet werden soll, aber es zeigt sehr wohl, wie wichtig es ist, stets sorgfältig und bewusst mit diesem Begriff umzugehen und auch immer wieder zu hinterfragen, ob, wo und wann er geeignet bzw. gerechtfertigt ist.
 
Literatur und Links
Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10, 2020). DIMDI. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information. Online: https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2020/ (letzter Zugriff am 23.9.2020)
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Meyer, Hermann (2003): Geistige Behinderung – Terminologie und Begriffsverständnis. In: Irblich, Dieter/Stahl, Burkhard (Hrsg.): Menschen mit geistiger Behinderung. Bern: Hogrefe.

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Sonja Gross

Auf dieser Seite teile ich mein Wissen zu aktuellen Theorien und Entwicklungen im Sozialbereich.
Ich unterstütze soziale Organisationen, Gemeinden und Kantone bei der Entwicklung und dem Verfassen von Konzepten und anderen Dokumenten rund um die Begleitung und Betreuung von Kindern, Jugendlichen, älteren Menschen und Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung.
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Ich freue mich über Ihre Nachricht: sonja.gross@conceptera.ch

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Ethik in sozialen Institutionen

6/1/2021

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Elrike ist 35 Jahre alt und hat eine kognitive Beeinträchtigung. Schon seit ihrer Kindheit hat sie Angst vor Wasser und duscht aus diesem Grund nicht gerne. In den letzten Monaten hat die Abneigung gegen das Duschen stark zugenommen – Elrike weigert sich, sich unter fliessendes Wasser zu stellen. Dies führt zu strengem Körpergeruch, aber auch dazu, dass sie sich ständig am Kopf kratzt, weil es sie so juckt.
Was sollen die Fachpersonen tun? Sollen sie Elrike gegen ihren Willen duschen?

Heinz ist 85 und hat fortgeschrittene Demenz. In der Nacht wacht er oft orientierungslos auf. Dabei ist er schon mehrfach aus dem Bett gefallen und hat sich dabei verschiedene Verletzungen zugezogen.
Wäre ein Bettgitter angebracht?

Heidi ist 21 Jahre alt und hat eine kognitive Beeinträchtigung. Gerne möchte sie leben wie andere Gleichaltrige. Besonders geniesst sie es, allein mit dem Bus zu fahren. Dabei hat sie sich schon mehr als einmal verfahren und den Weg nach Hause nicht mehr gefunden. Letzte Woche ist sie von einem Auto angefahren worden, weil sie gedankenlos mitten auf der Strasse spaziert ist.
Die Eltern von Heidi fordern von der Institution, dass diese Heidi nicht mehr allein rausgehen lässt.
Wie soll die Geschäftsleitung entscheiden? 

Alle diese Beispiele haben etwas gemeinsam: Es handelt sich um ethische Dilemmata, die auf Anhieb nicht so einfach zu lösen sind. Jede Institution sieht sich früher oder später mit solchen Herausforderungen konfrontiert. Es macht deshalb Sinn, sich mit den Grundlagen ethischer Entscheidungsfindung auseinanderzusetzen und diese konzeptionell zu verankern. Mit einer solchen Handlungsgrundlage schaffen Sie Klarheit, geben dem Fachpersonal Orientierung und können ihr Handeln begründen und sich im Zweifelsfall rechtfertigen.
In diesem Artikel möchte ich Ihnen einige grundlegende Überlegungen zur Erarbeitung eines Ethikkonzeptes vorstellen. 
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Definition: Was ist Ethik?
Das Wirtschaftslexikon Gabler definiert Ethik wie folgt: «Ethik ist die Lehre bzw. Theorie vom Handeln gemäss der Unterscheidung von gut und böse.» 
Ethik stimmt nicht immer mit den Gesetzen oder der Moral überein. Die Moral beschreibt hauptsächlich Handlungen, die ein Mensch oder eine Gesellschaft von anderen Mitmenschen erwartet und sorgt damit dafür, dass Menschen ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen. Die Moral ist stark abhängig vom jeweiligen Kulturkreis. So gilt es zum Beispiel in der Schweiz als moralisch korrekt, pünktlich zu sein.
 
Ethik (griechisch Ethos = Sitte, Charakter) ist die Lehre vom richtigen Verhalten. Im Unterschied zur Moral geht es in der Ethik darum herauszufinden und zu begründen, welche Handlungsmöglichkeit in einer bestimmten Situation die beste ist.  
Dazu muss zwischen verschiedenen Werten, Gütern, Interessen und/oder zwischen dem Anspruch konkurrierender ethischer Prinzipien abgewägt werden. Eine ethische Entscheidung sollte sich sowohl an den ethischen Prinzipien als auch an Werten und Normen der Gesellschaft orientieren. Die angewandte Ethik befasst sich mit genau dieser Herausforderung in der beruflichen Praxis.

Ethische Dilemmata in sozialen Institutionen
Ethische Dilemmata in sozialen Institutionen bewegen sich häufig im Spannungsfeld zwischen Freiheit, Selbstbestimmung und Teilhabe auf der einen und Sicherheit und Fürsorge auf der anderen Seite.
Angehörige und Institutionen sind bestrebt, dass ihren Kindern bzw. Klient*innen nichts zustösst. Sie sollen gesund sein und bleiben und sich nicht verletzen. Was wäre das wohl für ein Skandal, wenn Heidi beim Autounfall tödlich verunglückt wäre und das, obwohl doch bekannt war, dass sie nicht in der Lage war, den Verkehr adäquat einzuschätzen?
Demgegenüber steht der Wunsch von Heidi, ihr Selbstbestimmungsrecht und die Forderung der UN-Behindertenrechtskonvention auf Gleichberechtigung und Teilhabe. Einer so jungen Frau zu verbieten, sich allein fortzubewegen, wäre dies nicht massiv hinderlich für ihre Entwicklung und Lebensqualität?
Institutionen bewegen sich in diesem Spannungsfeld zwischen Verantwortung/Sicherheitsdenken und Entwicklungsförderung, in dem ethische Dilemmasituationen vorprogrammiert sind.
Von einem ethischen Dilemma spricht man, wenn sich die Handelnden mehreren, gleichermassen verpflichtenden Forderungen gegenübersehen, welche sich gegenseitig ausschliessen, so dass, egal wie man sich entscheidet, Werte, die es eigentlich zu berücksichtigen gilt, verletzt werden.
Egal welche Entscheidung man trifft – man geht ein Risiko ein und bietet Angriffsfläche für Kritik. Umso wichtiger ist es, dass Sie Ihre Entscheidungen professionell begründen können.

Ethische Prinzipien
Als Grundlage für eine ethische Entscheidungsfindung sind vor allem die 4 «Prinzipien der biomedizinischen Ethik» von Tom L. Beauchamp und James F. Childress als normative Grössen bekannt geworden.
  1. Respekt vor Selbstbestimmung = Autonomie
  2. Vermeidung von potenziellem Schaden = Nicht – Schaden
  3. Bemühung, Wohlbefinden, Sicherheit und Lebensqualität fördern = Gutes tun
  4. Suche nach einer gerechten Verteilung von Nutzen, Lasten und Aufwand = Gerechtigkeit
Curaviva, der Branchenverband der Institutionen für Menschen mit Unterstützungsbedarf, hat in seiner Publikation «Grundlagen für verantwortliches Handeln in Heimen und Institutionen» folgende 8 Grundsätze definiert:
  1. Recht auf Würde   und Achtung
  2. Recht auf Selbstbestimmung
  3. Recht auf Information
  4. Recht auf Gleichbehandlung
  5. Recht auf Sicherheit
  6. Recht auf qualifizierte Dienstleistungen
  7. Recht auf Wachstum der Persönlichkeit
  8. Recht auf Ansehen der Menschen in Heimen und Institutionen

Chancen und Grenzen eines Ethikkonzeptes
Ein Ethikkonzept kann keine Handlungsanleitungen für spezifische Situationen geben. Aber es kann durch das Festhalten allgemein gültiger Prinzipien sowie eines festgelegten Ablaufs der ethischen Entscheidungsfindung in der Institution eine Grundlage für ethisch fundierte Entscheidungen bieten. Damit gibt es dem Fachpersonal Sicherheit und Orientierung, dient als Informationsquelle und Argumentarium gegenüber Klient*innen, Angehörigen und Dritten, dient als zentrales Instrument zur Qualitätssicherung und -weiterentwicklung und ist ein Zeichen für aussenstehende Personen, dass die Institution sich verantwortungsvoll, professionell und transparent mit ethischen Fragestellungen auseinandersetzt.
 
Literatur und Tipps
Beauchamp, T. L. & Childress, J. F.: Principles of Biomedical Ethics. 6th Edition. Oxford University Press 2008

Curaviva (2010): Grundlagen für verantwortliches Handeln in Heimen und Institutionen. Online: www.curaviva.ch.

Schmid, Peter (2011): EPOS – ethische Prozesse in Organisationen im Sozialbereich. Luzern, Curaviva.
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Sonja Gross ​

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Zusammenarbeit mit Angehörigen in Behinderteninstitutionen

15/9/2020

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Die Zusammenarbeit mit Angehörigen stellt die Mitarbeitenden und die Institutionsleitung in Einrichtungen für erwachsene Menschen mit einer Behinderung immer wieder vor Herausforderungen. Denn häufig findet die Zusammenarbeit statt in einem Spannungsfeld zwischen Mitbestimmung der Angehörigen, welche oftmals auch die rechtlichen Vertretungen sind, und der Selbstbestimmung der Klient*innen.
Oftmals ist die Beziehung zu den Eltern sehr eng und es ist eine Herausforderung, diese nach ihren Vorstellungen einzubeziehen und gleichzeitig die Privatsphäre und die Wünsche der Klient*innen zu respektieren.
 
Umso wichtiger ist ein fundiertes Konzept, an dem sich sowohl die Mitarbeitenden als auch die Angehörigen, rechtlichen Vertretungen sowie die Klient*innen orientieren können. Dieses dient als Grundlage für die Zusammenarbeit und klärt die Ziele, Haltungen und Rahmenbedingungen.
Leider gibt es, anders als im Alters- und Pflegebereich, aber kaum spezifische Literatur, Handlungsempfehlungen oder Standards, an denen man sich hierbei orientieren könnte. Mit diesem Artikel möchte ich dazu beitragen, diese Lücke zu füllen. 
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Bedeutung der Angehörigen bzw. rechtlichen Vertretungen
Zu den Angehörigen zählen die Eltern, aber auch Geschwister und weitere Verwandte sowie andere Personen, die mit der Klientin oder dem Klienten eng verbunden sind. Oftmals übernehmen Angehörige wie bereits erwähnt eine Doppelfunktion, indem sie gleichzeitig auch die rechtliche Vertretung sind.
Sie verfügen durch ihre langjährige Erfahrung über viele Kenntnisse und Kompetenzen über die Klientin oder den Klienten, die eine wertvolle Ressource darstellen und hilfreiche Hinweise für die Begleitung und Betreuung darstellen. Eine gute Zusammenarbeit zeichnet sich dadurch aus, dass dieses Wissen optimal zugunsten der Klientin oder des Klienten eingesetzt werden kann unter gleichzeitiger Berücksichtigung seiner oder ihrer Wünsche und Privatsphäre.
Häufig ist dies ein Balanceakt, denn das Wissen und das oftmals damit verbundene hohe Engagement bergen auch viel Konfliktpotenzial. Ungelöste Konflikte schaden nicht nur der Reputation bzw. dem Image der Institution, sondern wirken sich auch mittelbar emotional auf die betroffenen Klient*innen aus. Dies kann sich beispielsweise ausdrücken in Verhaltensauffälligkeiten, Wut oder Depressionen. Gelingt es, die Konflikte gemeinsam anzugehen und zu lösen, kann dies massgeblich zur qualitativen Weiterentwicklung und Professionalisierung der Institution beitragen.
 
Alles gute Gründe, sich proaktiv mit dem Thema Angehörigenarbeit auseinanderzusetzen und wichtige Grundlagen für Struktur und Prozess festzuhalten. 

Austausch und Kontaktpflege
Viele Überlegungen sind analog der Angehörigenarbeit im Alters- und Pflegebereich. Ich fasse sie im Folgenden nochmals kurz zusammen:
 
Zugrundeliegende Haltung
Es lohnt sich, die zugrundeliegende Haltung zu definieren.
Was erwarten Sie von Ihren Mitarbeitenden, aber auch von den Angehörigen in Bezug auf die Zusammenarbeit?
 
Information der Angehörigen bzw. rechtlichen Vertretungen
Des Weiteren ist es wichtig festzulegen, welche Informationen auf welchem Weg durch wen und innerhalb von welchem Zeitraum weitergegeben werden.
 
Gegenseitiger Informationsaustausch, Kontakt-/ Beziehungspflege
Eine gute Zusammenarbeit setzt Informationsaustausch in beide Richtungen voraus. Insbesondere beim Eintritt lohnt es sich, bei den Angehörigen systematisch Informationen abzuholen und zu dokumentieren. Dabei handelt es sich allerdings um einen stetigen Prozess, der danach nicht abgeschlossen ist und im Alltag weitergelebt werden muss.
Um dies zu gewährleisten, sollten entsprechende Massnahmen und Verantwortlichkeiten festgelegt werden.
 
Beschwerdemanagement
Ein geregeltes Beschwerdemanagement ist zentral, um Konflikte und Spannungen frühzeitig zu lösen und Rückmeldungen konstruktiv zur Weiterentwicklung der Institution nutzen zu können.
Der Prozess und die Verantwortlichkeiten im Beschwerdemanagement sollten transparent und verständlich festgehalten und den Angehörigen bzw. rechtlichen Vertretungen, aber auch den Mitarbeitenden kommuniziert werden. 

Einbezug und Mitbestimmung
Voraussetzung für das Gelingen der Zusammenarbeit ist die Klärung von Erwartungen und Verantwortlichkeiten:
Wie viel Mitbestimmung ist gewünscht? Wo und in welchem Rahmen dürfen Angehörige bzw. rechtliche Vertretungen mitbestimmen? Wo ist die Grenze?
 
Basis dieser Klärung sollte immer der rechtliche Rahmen sein. Zu diesem gehört das aktuelle Erwachsenenschutzgesetz (im Zivilgesetzbuch, ZGB), das seit 1. Januar 2013 in Kraft ist. Es regelt die behördlichen Massnahmen zum Schutz von erwachsenen Personen, die hilfs- oder schutzbedürftig sind.
 
Insbesondere folgende Punkte sind ausschlaggebend:
 
Urteilsfähigkeit
Bei Fragen und Entscheidungen, in denen der Klient oder die Klientin urteilsfähig ist, entscheidet er oder sie grundsätzlich selbst. Der Klient oder die Klientin entscheidet auch darüber, ob und inwiefern die rechtliche Vertretung oder die Angehörigen einbezogen werden sollen.
 
Definierte Beistandschaft
Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, KESB, errichtet dann eine Massnahme, wenn eine Person nicht in der Lage ist, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen. Dabei wird immer die Wahrung der grösstmöglichen Selbstbestimmung beabsichtigt. Aus diesem Grund werden 4 verschiedene Arten von Beistandschaft unterschieden und darüber hinaus bestimmte Themenbereiche festgelegt, so dass die Massnahme auf die Unterstützungsbedürfnisse der jeweiligen Person abgestimmt ist.
Eine Beistandschaft kann von Angehörigen oder von Professionellen übernommen werden. Diese werden als rechtliche Vertretung bezeichnet. In welchen Angelegenheiten die rechtliche Vertretung unterstützend begleitet oder die Klientin oder den Klienten vertritt, wird im Dispositiv festgehalten.
 
Höchstpersönliche Rechte
Es gibt höchstpersönliche Rechte, die «einer Person um ihrer Persönlichkeit willen zustehen». Diese Rechte können auch von handlungsunfähigen Personen, zum Beispiel von Personen mit einer umfassenden Beistandschaft oder von minderjährigen Personen, wahrgenommen werden, falls sie urteilsfähig sind. Unter diese höchstpersönlichen Rechte fällt zum Beispiel, das Recht …:
  • … über die religiöse Zugehörigkeit zu entscheiden
  • … medizinischen Behandlungen zuzustimmen
  • … zur Eheschliessung und zur Einreichung einer Ehescheidungsklage
  • … ein Testament zu errichten, zu widerrufen oder einen Erbvertrag abzuschliessen
  • … ein Kind anzuerkennen
  • … auf Sexualität
  • … auf das eigene Foto
 
Die rechtliche Vertretung ist bei solchen Angelegenheiten nicht berechtigt, in Vertretung einer urteilsfähigen Person zu handeln. Ausnahmen können sich höchstens in Notfällen zum Schutz der Person oder Dritter ergeben (z. B. eine medizinisch notwendige Operation) oder bei Kindern bis 18 Jahren auch aus überwiegend erzieherischen Gründen.
 
Datenschutz und Schweigepflicht
Mitarbeitende sowie die Leitung einer Institution unterstehen der Schweigepflicht. Für einen Informationsaustausch mit Angehörigen bzw. der rechtlichen Vertretung muss eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt sein:
  • Die Klientin oder der Klient ist urteilsunfähig und die betreffende Angelegenheit liegt offiziell (gemäss Dispositiv) im Zuständigkeitsbereich der rechtlichen Vertretung.
  • Die Klientin oder der Klient stimmt dem Informationsaustausch mit den Angehörigen über die entsprechende Angelegenheit ausdrücklich zu.
 
Die Klient*innen stehen im Mittelpunkt
Ist der Klient oder die Klientin einer bestimmten Angelegenheit urteilsfähig, dann entscheidet immer sie oder er selbst über die Angelegenheit!
Ein Informationsaustausch findet nur statt, wenn die Klientin oder der Klient das möchte.
Ausnahmen werden dann gemacht, wenn dienstlich gewonnene Kenntnisse ein Tätigwerden der KESB zum Schutz der Klientin oder des Klienten oder einer dritten Person notwendig machen.

Schulung des Personals
Damit die im Konzept festgehaltenen Überlegungen im Alltag gelebt werden, muss das Personal über das notwendige Wissen verfügen und die Haltung verinnerlicht haben. Dazu empfiehlt sich eine solide Einführung und Schulung des Personals im Umgang mit Angehörigen, im Umgang mit Kritik und Beschwerden, den Rollen und Verantwortlichkeiten, der Gesprächsführung und den rechtlichen Rahmenbedingungen.
 
Conceptera bietet zu diesen Themen auch In-House-Schulungen an, die speziell auf Ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind.

Literatur
​
Daneke, Sigrid (2010): Achtung, Angehörige! Kommunikationstipps und wichtige Standards für Pflege- und Leitungskräfte. Hannover: Schlütersche.
 
Ugolini, Bettina (2014): Umgang mit Angehörigen: Wie Institutionen der Alterspflege wertschätzend mit Wünschen, Anliegen und Beschwerden von Angehörigen umgehen können – ein Leitfaden. Bern: Curaviva.

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Resilienz – das Immunsystem der Psyche

30/4/2020

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Resilienz bezeichnet die psychische Widerstandskraft, die innere Stärke eines Menschen. Durch diese psychische Widerstandskraft können Krisen, wie zum Beispiel traumatische Erlebnisse, Konflikte, Erkrankungen oder auch die Corona-Epidemie, ohne anhaltende Beeinträchtigung überstanden werden. Resilienz ist gewissermassen das Immunsystem der Seele.
Gerade in dieser jetzigen ausserordentlichen Zeit ist Resilienz mehr denn je gefragt. Von uns, aber auch von unseren Klient*innen in sozialen Institutionen. Lesen Sie in diesem Artikel, wie Sie Ihre und die Resilienz Ihrer Klient*innen stärken können
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Schutzfaktoren innerhalb und ausserhalb der Person
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Die Forschung hat gezeigt, dass es schützende Faktoren gibt, welche die schädliche Wirkung ungünstiger Entwicklungsbedingungen, sogenannter Risikofaktoren, abschwächen. Dazu gehören sowohl Schutzfaktoren innerhalb als auch ausserhalb des Menschen. Zu den personalen Schutzfaktoren gehören beispielsweise Selbstwirksamkeitsüberzeugung, internale Kontrollüberzeugung, eine optimistische und zuversichtliche Lebenseinstellung, religiöser Glaube oder Spiritualität sowie Verfolgung von Talenten und Ausüben von Interessen und Hobbies. Beispiele für äussere Resilienzfaktoren sind soziale Unterstützung, positive Freundschaftsbeziehungen, klare, konsistente Regeln und Abläufe, Wertschätzung, Vorhandensein positiver Rollenmodelle oder altruistische Handlungen für andere.
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Schutzfaktoren können das Auftreten einer psychischen Beeinträchtigung oder einer anderen Entwicklungsstörung verhindern oder abwehren und stärken somit das psychische Immunsystem. 

Wie Sie Ihr psychisches Immunsystem stärken
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Das eigene psychische Immunsystem zu stärken ist eine der wichtigsten Aufgaben in der jetzigen Zeit. Damit sorgen Sie nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Menschen in Ihrer nächsten Umgebung; für Ihre Familie und Freunde, Ihre Kolleg*innen und Klient*innen. Nur so können Sie auch für diese da sein, wenn Sie gebraucht werden. Und da zudem durch unsere Spiegelneuronen Gefühlszustände anderer Menschen unbewusst aufgenommen werden, ist es umso wichtiger, dass Sie die Menschen um sich herum positiv beeinflussen – eben weil dies auch direkt wieder Einfluss auf Sie hat. Damit kommen wir auch schon zu den verschiedenen Möglichkeiten, die Ihnen dabei helfen können, Ihr psychisches Immunsystem zu stärken:


  • Lassen Sie Ihre Psyche nicht unbewusst negativ beeinflussen
Tagtäglich erhalten wir tausende von Informationen, die uns und unsere Psyche beeinflussen. Zum Teil geschieht dies bewusst und zum Teil unbewusst. Es gibt zahlreiche Tricks, um unsere Psyche nicht unbewusst negativ beeinflussen zu lassen.
Ein Trick ist keine Nachrichten im Hintergrund oder als Popup laufen zu haben. Sich stets bewusst und nur zu bestimmten Zeiten über die aktuelle Situation zu informieren, hilft dabei, negative Informationen nicht ins Unterbewusstsein gelangen zu lassen und die Kontrolle über den aktuellen Gefühlszustand zu bewahren.
Ein andere wirkungsvolle Methode, um sich nicht durch andere Personen negativ beeinflussen zu lassen ist sich selbst, nach einem Treffen oder einem Gespräch mit einer anderen Person, für einen Augenblick lang bewusst wahrzunehmen und sich zu fragen: Wie fühle ich mich jetzt? Wenn etwas Negatives da ist: Gehört das zu mir oder sind das die Gefühle der anderen Person, die mich gerade beeinflusst haben?

  • Kultivieren Sie Achtsamkeit
Achtsamkeit zu kultivieren kann bedeuten, dass Sie mehrmals am Tag Ihre ganze Aufmerksamkeit bewusst auf den aktuellen Augenblick zu richten, um wahrzunehmen, wie es Ihnen oder Ihrem Gegenüber geht. Beispielsweise können Sie das tun, indem Sie zu sich selbst sagen, dass Sie jetzt ganz bei sich sind. Nehmen Sie sich über alle Sinne bewusst wahr und versuchen Sie jede Zelle Ihres Körpers von der Haarwurzel bis zur Zehenspitze zu erfühlen.

  • Geben Sie Ihrer Psyche positive Inputs
Positive Inputs können Sie Ihrer Psyche geben, indem Sie etwa nach positiven Neuigkeiten suchen, Witze lesen oder sich bewusst an schöne, bereichernde und wohltuende Momente in Ihrem Leben erinnern. Das Heilsamste für die Psyche überhaupt ist Lachen. Und was spannend, und ebenfalls wissenschaftlich erwiesen ist: Es funktioniert auch dann, wenn einem nicht nach Lachen zumute ist.

  • Nutzen Sie die positiven Effekte von Bewegung
Nicht nur die Mimik beeinflusst unser Befinden, sondern unser gesamter Körper wirkt sich auf unseren Geist aus. Bei sportlicher Betätigung werden Endorphine ausgeschüttet, die glücklich machen, und eine gerade Haltung erhöht unmittelbar das Selbstvertrauen.

  • Bauen Sie Entspannungsmomente in Ihren Alltag ein
Jede*r hat seine eigenen funktionierenden Entspannungstechniken – sei es ein Bad zu nehmen, sich eine Massage zu gönnen, zu meditieren oder sich auf den Rücken zu legen und guter Musik zu lauschen. Wissenschaftlich erwiesen ist der positive Effekt von Muskelrelaxationstraining und ich persönlich kann Ihnen Yogamet sehr empfehlen.

Wie Sie die das psychische Immunsystem Ihrer Klient*innen stärken
Klient*innen mit einer geistigen oder psychischen Beeinträchtigung oder auch Kinder sind auf unsere Unterstützung angewiesen, um Ihre Resilienz zu stärken. Indem Sie selbst entspannt sind, unterstützen Sie auch die Resilienz Ihrer Klient*innen.

  • Strahlen Sie Ruhe, Gelassenheit und Positivität aus
Ihre Ausstrahlung wird sich unmittelbar auf Ihre Klient*innen übertragen. Aufgrund des Machtverhältnisses geschieht die Übertragung von Fachperson auf Klient*in noch viel schneller als umgekehrt. Indem Sie sich dessen bewusst sind und gezielt einsetzen, dienen Sie als positives Rollenmodell und können so vielen Klient*innen dabei unterstützen, psychisch gesund zu bleiben.

  • Fördern Sie Hobbies, Interessen und soziale Kontakte
Wer seinen Hobbies und Interessen nachgeht und soziale Kontakte hat, ist psychisch stabiler als jemand, der dies nicht tut. Gesellschaftsspiele und Bastelangebote gewinnen damit in Zeiten von Corona, in denen die Klient*innen sich nicht draussen aufhalten dürfen, wieder besonders an Bedeutung. Durch die Anschaffung neuer Spiele gelingt es Ihnen vielleicht, wieder neue Freude ins Gemeinschaftsleben zu bringen.
Basteln und das Pflegen sozialer Kontakte können ebenfalls gut verknüpft werden: Wieso nicht ein Geschenk für eine nahestehende Person basteln und dieses dann mit einer Karte verschicken?
Die positive Psychologie kennt noch ein weiteres Tool, das die subjektive Lebensqualität und die psychische Widerstandskraft stark erhöht: das Dankbarkeitstagebuch. Erstellen Sie mit interessierten Klient*innen ein Buch oder ein Poster, in dem gemeinsam kontinuierlich alles sammeln, wofür sie dankbar sind.

  • Nutzen Sie Glaube oder Spiritualität als Schutzfaktoren
Essentielle und anerkannte Schutzfaktoren sind Glaube oder Spiritualität. Doch ist der Zugang zu Kirchen und religiösen Angeboten derzeit stark erschwert. Dabei könnte es genau das sein, was vielen Menschen guttut. Indem Sie im Alltag vermehrt den persönlichen Glauben thematisieren, können Sie Ihre Klient*innen dabei unterstützen, all das an Glaubenskraft, das vorhanden ist, ins Bewusstsein zu rücken und als Ressource zu nutzen.

  • Sorgen Sie für klare, transparente und konsistente Abläufe
Die aktuelle Ausnahmesituation erfordert von uns allen viel Flexibilität und Anpassung, damit die Schutzmassnahmen zur Verringerung der Ansteckungsgefahr eingehalten werden. Und gerade in dieser Zeit der Unsicherheit sind klare, transparente und konsistente Abläufe umso wichtiger. Stellen Sie deshalb sicher, dass Ihre Klient*innen eine tägliche Routine und Struktur haben und über diese gut Bescheid wissen. Darüber hinaus kann zum Beispiel eine Infowand hilfreich sein, auf der visuell die aktuellen Massnahmen, aber auch die Fixpunkte und Ziele dargestellt werden. Dies gibt den Klient*innen inneren Halt und vermittelt ein Gefühl von Kontrolle und Sicherheit.
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  • Nutzen Sie die Wirkung altruistischer Handlungen
Wenn Klient*innen mit uneigennützige Handlungen anderen helfen, so kommen sie selbst von der Opfer- in die Helferrolle. Dadurch werden die Selbstwirksamkeit und das eigene Kontrollerleben gestärkt sowie eigene Ressourcen aufgedeckt und aktiviert. So könnten Klient*innen aus einer Behinderteninstitution vielleicht Bewohner*innen des naheliegenden Altersheimes eine Freude machen. Oder die Bewohnenden im Altersheim den Mitarbeitenden des Spitals. Vielleicht ist es auch möglich, intern Strukturen aufzubauen, in denen die Menschen sich gegenseitig unterstützen.  Aber auch schon die Pflege und Verantwortung für eine Pflanze oder auch ein Tier zu übernehmen, hat nachweislich einen positiven Effekt auf die psychische Gesundheit.

Bleiben Sie kreativ und lösungsorientiert
Es gibt eine Vielzahl an Ideen und Möglichkeiten, um die Resilienz zu stärken. Deshalb erhebt diese Auflistung auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Bleiben Sie also kreativ und suchen Sie, gemeinsam mit Ihren Klient*innen, aktiv nach neuen, sich positiv auswirkenden Mitteln und Möglichkeiten.
Haben Sie weitere Ideen und Lösungsstrategien, die Ihnen und den Klient*innen beim Überstehen dieser ausserordentlichen Zeit helfen können? Dann teilen Sie diese unten in den Kommentaren! Ich freue mich über Ihr Feedback und Ihre individuellen und kreativen Vorschläge.
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Literatur und Tipps
Antonovsky, Aaron (1979): Health, stress, and coping. New perspectives on mental and physical well-being. San Francisco: Jossey-Bass.

​​Frenk, Rafael (2020): Sieben Wege wie du überall abschalten kannst. Online: Entspannung: 7 Wege wie du überall abschalten kannst (primal-state.de) (letzter Zugriff am 5.12.2020).

Wustmann, Corinna (2004): Resilienz. Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Berlin: Cornelsen.
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Das Menschenbild im Begleitkonzept sozialer Institutionen

28/2/2020

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Das Menschenbild ist integraler Bestandteil eines Begleitkonzeptes und darf somit nicht fehlen. Doch was hat es eigentlich damit auf sich? Wieso ist es so wichtig, welche unterschiedlichen Arten von Menschenbildern gibt es und woran sollten Sie denken bei der (Weiter-)Entwicklung ihres Menschenbildes?
Erst wenn man das versteht, ist man auch in der Lage, ein individuelles und aussagekräftiges Menschenbild zu entwickeln. Deshalb werde ich nachfolgend näher auf diese Fragen eingehen
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Was ist ein Menschenbild?
Menschenbilder sind Vorstellungen, die wir von den grundlegenden Wesensmerkmalen und Eigenschaften des Menschen haben. Wir alle versuchen, das Verhalten unserer Mitmenschen zu erklären, vorherzusagen und zu beeinflussen. ​
Wie wird die Person reagieren, wenn ich ihr etwas anvertraue? Wird die Person das Geld zurückzahlen, wenn ich ihr etwas leihe? Kann ich dem Klienten zutrauen, alleine die ÖV zu benutzen?
Zur Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen greifen wir oftmals – bewusst oder eben auch unbewusst – auf unsere Menschenbilder zurück.
Sie haben richtig gelesen: Menschenbilder. Denn je nach Personengruppe haben wir von diesen auch ein jeweils unterschiedliches Menschenbild. So betrachten wir, ohne rassistisch zu sein, Menschen aus Senegal mit anderen Vorstellungen und Erwartungen als etwa unsere Arbeitskolleg*innen.
Die Menschenbilder beeinflussen unser Denken und Handeln – bewusst oder unbewusst.
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Nietzsche hat geschrieben: «Überzeugungen sind gefährlichere Wahrheiten als Lügen». Den Grund dafür eine solche Aussage zu machen, sehe ich darin, dass uns die Überzeugungen, im Gegensatz zu den Lügen, oftmals nicht bewusst sind. Umso wichtiger ist es, sein Menschenbild bewusst zu reflektieren und festzuhalten.
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Warum ist die Reflexion und das Festhalten des Menschenbilds so wichtig? 
Bei Menschenbildern lässt sich ein spannender Effekt zu beobachten: Sie bewahrheiten sich oftmals – wobei sie des Öfteren auch durchaus widersprüchlich sein können. So gehen etwa einige Führungskräfte von der Annahme aus, dass glückliche Kühe mehr Milch geben. Andere wiederum nehmen an, dass mehr Gehalt zu mehr Leistung führt.
Dieses Phänomen der sich selbst erfüllenden Annahmen ist auch bekannt unter den Begriffen «Rosenthal-Effekt», «Pygmalion-Effekt» oder «Selbsterfüllende Prophezeiung».
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Um die Wirkung dieses Effektes noch etwas anschaulicher zu erklären, nachfolgend ein Beispiel von einer Mutter, die davon überzeugt ist, dass ihr Sohn, Leo, wenig begabt ist. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich die Mutter entsprechend dieser Überzeugung verhalten wird:
Sie wird Leo voraussichtlich weniger zutrauen und ihm weniger herausfordernde Aufgaben stellen. Leo darf somit weniger selbst entscheiden und seine Entscheidungen und sein Verhalten werden vermutlich auch häufiger kontrolliert. Wahrscheinlich erhält er auch etwas weniger Lob als andere, weil seine Leistungen ja schliesslich unter dem Durchschnitt liegen.

Die Folge davon dürfte sein, dass Leo weniger Möglichkeiten erhält, Erfahrungen zu sammeln und seine Kompetenzen zu erweitern und dadurch ein geringeres Selbstvertrauen sowie eine geringere Selbstwirksamkeit entwickelt. Dementsprechend wird Leo in seinem Verhalten voraussichtlich auch weniger kompetent und erfolgreich sein. Die Mutter nimmt dies wahr und dürfte sich in ihren Annahmen bestätigt fühlen, weswegen sie sich noch intensiver diesem Menschenbild entsprechend verhalten dürfte.
Ein Teufelskreis, der dazu führt, dass Leo sich immer mehr in diese für ihn nachteilig auswirkende Richtung entwickelt.
Dieses Beispiel lässt sich gut auf unseren Umgang mit unseren Klient*innen, aber auch mit unseren Mitarbeitenden übertragen und zeigt deutlich, weshalb es so wichtig ist, seine Vorstellungen und Erwartungen explizit zu machen und zu hinterfragen. Ausserdem ist es ein Hinweis darauf, weshalb es sinnvoll ist, Menschenbilder etwas positiver zu formulieren, als sie objektiv gesehen gerechtfertigt wären.
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Welche unterschiedlichen Menschenbilder gibt es?
Menschenbilder sind stark abhängig von unserer Kultur, der Region, in der wir leben, der Branche, in der wir tätig sind und auch dem Zeitgeist.
Um den raschen Wandel der Menschenbilder noch weiter zu verdeutlichen, möchte ich Ihnen nachfolgend einige Menschen nennen, die das Menschenbild ihrer Zeit stark geprägt haben bzw. die vorherrschenden Menschenbilder ihrer Zeit zum Ausdruck bringen.

  • Platon (428/427-348/347 v. Chr.)
    Je nach Stand haben Menschen unterschiedliche Bestimmungen.
  • Johann Amos Comenius (1592-1670)
    Das Ständedenken wird aufgelöst und es wird davon ausgegangen, dass der Mensch unabhängig seines Standes ein Ebenbild Gottes ist.
  • Immanuel Kant (1724-1804)
    In der Zeit der Aufklärung herrscht der Grundgedanke vor, dass der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen ist.
  • René Spitz (1887-1974)
    Die Wichtigkeit der emotionalen und zwischenmenschlichen Interaktion wird wieder neu gewichtet. Spitz stellt in seinen Untersuchungen mit Heimkindern fest: Das Ausbleiben emotionaler Zuwendung kann zu emotionalem Verhungern führen.
  • John Bowlby (1907-1990)
    Der Mensch ist auf Bindung angewiesen.
  • Eduard Spranger (1914)
    Ein bis heute in der Wirtschaftswelt weit verbreitetes Menschenbild ist der Homo Oeconomicus mit der Annahme: Der Mensch stellt in allen Lebensbeziehungen den Nützlichkeitswert an erste Stelle.
  • Gerhard Roth (geb. 1942)
    Das lebenslange Lernen wird entdeckt. Der Biologe und Hirnforscher Roth stellt fest: Das Gehirn des Menschen besitzt eine hohe Plastizität.
  • Charlotte Bühler, Abraham Maslow, Carl Rogers (ab 1962)
    Das humanistische Menschenbild basiert auf der Grundannahme, dass jeder Mensch ein ganzheitliches Wesen ist, welches von Natur aus gut ist, Lösungen für Probleme bereits in sich trägt und ein Leben lang lernfähig ist.

Noch vor 10 Jahren wurde in Behinderteninstitutionen mit einem anderen Menschenbild gearbeitet als heute. Inzwischen gibt es eine neue Ausrichtung des Verständnisses von Behinderung.
An die Stelle von Fürsorge und Ausgleich vermeintlicher Defizite ist heute das Verständnis getreten, dass Menschen mit Beeinträchtigung selbstbestimmt entscheiden können, was ihnen guttut.
Menschenbilder sind also nichts Statisches, sondern sie verändern sich im Laufe der Zeit. Es ist deshalb sinnvoll und notwendig, diese in regelmässigen Abständen zu überprüfen und zu überarbeiten.

Worauf ist zu achten bei der (Weiter-)Entwicklung des Menschenbildes?
Es ist sinnvoll, sich als Institution eigene Gedanken zum Thema Menschenbild zu machen. Denn die Aussage «Wir orientieren uns am humanistischen Menschenbild» ist für die Umsetzung im Alltag meist nur wenig hilfreich. Dies merken sie spätestens dann, wenn sie ihre Mitarbeitenden konkret fragen: «Woran würde eine Besucherin erkennen, dass Ihrer Arbeit das humanistische Menschenbild zugrunde liegt?»
Folgende Fragen könnten Ihnen helfen, ein individuelles und aussagekräftiges Menschenbild zu entwickeln:
  • Woran wird man erkennen, dass ein Mensch diesem Menschenbild entspricht?
  • Welche Auswirkung hat dieses Menschenbild auf die Menschen/ihre Klient*innen?
  • An welchen Handlungen lässt sich beobachten, dass die Mitarbeitenden das Menschenbild verinnerlicht haben?

Ich hoffe, dieser Artikel regt Sie dazu an, sich mit Ihrem Menschenbild auseinanderzusetzen und dieses zu hinterfragen. Ich freue mich immer über Ihre Kommentare und Rückmeldungen. Und falls Sie Unterstützung benötigen sollten bei der konzeptionellen (Weiter-)Entwicklung ihres Menschenbildes: Ich bin gerne für Sie da.

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Sonja Gross

Auf dieser Seite teile ich mein Wissen zu aktuellen Theorien und Entwicklungen im Sozialbereich.
Ich unterstütze soziale Organisationen und Gemeinden bei der Entwicklung und dem Verfassen von Konzepten und anderen Dokumenten rund um die Begleitung und Betreuung von Kindern, Jugendlichen, älteren Menschen und Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung.
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Ich freue mich über Ihre Nachricht: sonja.gross@conceptera.ch

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Labels für Leichte Sprache im Vergleich

6/11/2019

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Wer Leichte Sprache einführen möchte, wird sich früher oder später mit der Frage auseinandersetzen: „Welches Label ist das Richtige für uns?“
Ein Label hat verschiedene Zwecke. Auf der einen Seite dient es zur Kennzeichnung eines Textes in Leichter Sprache. So erkennt die Zielgruppe auf einen Blick, dass der Text leicht verständlich geschrieben ist und für Lesende von Standardsprache ist dadurch offensichtlich, warum der Text in leicht veränderter Form daherkommt. Andererseits ist ein Prüfsiegel ein Zeichen für die Qualität der Übersetzung.
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Leichte Sprache liegt im Trend. Wer ein möglichste breites Zielpublikum erreichen möchte, verfasst seine Texte in Leichter Sprache. Eingeführt wurde Leichte Sprache ursprünglich für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung. Inzwischen hat sich gezeigt, dass das Lesen von Texten in Leichter Sprache auch eine Hilfestellung darstellt für Menschen mit:
  • einer anderen Muttersprache
  • Demenz
  • Bildungsferne
  • Taubheit        
  • Sehbeeinträchtigungen
  • Kommunikationsbeeinträchtigung
  • funktionalem Analphabetismus
  • dem Wunsch, sich schnell über ein Thema zu informieren
 
Wenn Sie noch mehr wissen möchten über Leichte Sprache, lesen Sie in meinem letzten Blogartikel: Der neue Trend: Leichte Sprache, die Sprache für alle. Immer mehr Behörden, Medien, soziale Institutionen und Vereine, aber auch Unternehmen folgen dem Trend und stellen ihre Informationen (zusätzlich) in Leichter Sprache zur Verfügung. Die allermeisten kennzeichnen diese Texte mit einem Label. Wer welches Label wählt, wird derzeit in der Schweiz noch sehr unterschiedlich gehandhabt. Grund dafür ist wohl auch, dass es je nach Label unterschiedliche Voraussetzungen zu erfüllen gilt, damit das jeweilige Label verwendet werden darf. In diesem Artikel habe ich die Labels mit den wichtigsten Unterschieden für Sie zusammengestellt.
Inclusion Europe - Europäisches Label 
Incusion Europe  ist eine in Belgien registrierte Non-Profit-Organisation, die von der UN unterstützt wird, mit dem Ziel, Inklusion in Europa voranzutreiben. Sie hat das sogenannte „Europäische Label“ für Leichte Sprache sowie dazugehörige Regelwerke und Leitfäden entworfen.
Das Label ist frei verwendbar unter folgenden Bedingungen:
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  1. Das Dokument muss nach den europäischen Regeln für leicht lesbare Informationen geschrieben worden sein.
  2. Mindestens eine Person aus der Zielgruppe muss das Dokument gelesen haben, um zu prüfen, ob es leicht zu lesen und zu verstehen ist.
  3. Das Logo muss mit den Originalfarben und Massen verwendet werden.
  4. Der folgende Copyright-Hinweis muss angegeben werden: „© Europäisches Logo für einfaches Lesen: Inclusion Europe. Weitere Informationen unter www.leicht-lesbar.eu“ 
Alle Informationen sowie das Label zum Download finden sich unter: www.easy-to-read.eu

Stiftung Universität Hildesheim 
Die Universität Hildesheim ist bekannt für ihre Forschungsarbeiten zu Leichter Sprache. Als einzige Universität verfügt sie über die Forschungsstelle Leichte Sprache, an der sowohl wissenschaftliche Arbeiten als auch praktische Projekte umgesetzt werden.
Basierend auf Forschungsergebnissen hat sie ein umfangreiches Regelbuch herausgegeben, welches auch online zu finden ist.
Die Forschungsstelle der Universität Hildesheim führt forschungsbegleitete Übersetzungsprojekte durch und bietet die Prüfung von bereits übersetzten Texten an. Von der Forschungsstelle geprüfte und entsprechend überarbeitete Texte erhalten das Label „Leichte Sprache wissenschaftlich geprüft“ und zusätzlich das Prüfsiegel für Leichte oder Einfache Sprache. Diese Siegel dürfen von allen genutzt werden, die Texte in Leichter Sprache produzieren und sind frei zugänglich. Voraussetzung zur Verwendung dieser Siegel ist, dass das Regelset der Forschungsstelle Leichte Sprache befolgt wird. Im Gegensatz zu den anderen hier aufgeführten Labels muss jedoch die Siegelverwendung nicht notwendigerweise auch an eine Zielgruppenprüfung gebunden sein.

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Capito 
Capito ist ein privates Unternehmen mit dem gemeinnützigen Unternehmensziel die Gleichstellung und Teilhabe aller Menschen zu fördern. Capito hat ein breites Angebot, um Informationen verständlich zu machen. Dazu gehören Übersetzungen in Leichte Sprache, das Erstellen von Lernunterlagen sowie Workshops und die Analyse zur physischen Barrierefreiheit.
Capito verwendet, je nach Sprachlevel, eines der folgenden drei Labels zur Auszeichnung geprüfter Texte: Um das Label verwenden zu dürfen, müssen Sie entweder Ihre Texte direkt von Capito übersetzen lassen oder eine Franchise-Partnerschaft mit Capito eingehen.
 
„capito Qualitäts-Partner nutzen das capito Know-how und halten sich an den capito Qualitäts-Standard. Sie werden von einem autorisierten Social Franchise Partner in ihrer Nähe betreut, der ihnen für Tipps, Stichproben-Überprüfung und praktische Hilfestellung zur Verfügung steht.“ (capito, online). 
 
Netzwerk Leichte Sprache
Beim Netzwerk Leichte Sprache handelt es sich um einen Verein mit Mitgliedern aus Deutschland, Österreich, Südtirol, der Schweiz und Luxemburg.
Das Netzwerk wurde 2006 von Menschen mit und ohne Behinderung gegründet. In dem Netzwerk arbeiten unter anderem Übersetzer*innen und Prüfer*innen und andere Personen, die mit Leichter Sprache arbeiten zusammen mit dem Ziel, sich zu vernetzen, weiterzubilden und Leichte Sprache weiterzuentwickeln. Auch die Regeln werden stetig ergänzt und neu angepasst. Das aktuelle Regelbuch ist online abrufbar. 
Genutzt werden darf das Label von allen Netzwerk-Mitgliedern. Diese bezahlen einen jährlichen Mitgliedsbeitrag und verpflichten sich zur Verwendung des Regelwerkes.

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Bund, Schweizerisches Department des Inneren
Spannend ist auch immer zu sehen, für welches Label sich der Bund entschieden hat. In diesem Fall hat er keines der bestehenden Labels gewählt; stattdessen hat das Gleichstellungsbüro vom Eidgenössischen Departement des Inneren eigene Kennzeichnungen entwickelt.  
Die Überlegung dahinter, so hiess es auf Anfrage, ist es, einen einheitliches Erscheinungsbild zu schaffen. Dies wäre, da viele verschiedene Labels bzw. Kennzeichnungen gebraucht würden, zum Beispiel für Gebärden, für barrierefreie PDF-Texte oder für Audio-Unterstützung, ansonsten nicht gegeben. Die Labels dürfen frei verwendet werden, hiess es auf Anfrage. 
 
Fazit
Einige Labels sind frei verwendbar und an eine Selbstverpflichtung gebunden, andere setzen eine Mitgliedschaft oder eine Franchise-Partnerschaft voraus. Obwohl fast allen Labels eigene Übersetzungsregeln zugrunde liegen, sind die Unterschiede der Regelwerke aus meiner Sicht nur wenig erheblich. Weil diese Disziplin noch sehr jung ist, ist ausserdem davon auszugehen, dass sich die verschiedenen Labels in den kommenden Jahren noch öfters ändern und weiterentwickeln werden. Deshalb bin ich der Meinung, dass von Einzelfall zu Einzelfall geprüft werden sollte und im Zweifelsfall entsprechend der Rückmeldungen der Zielgruppe übersetzt werden sollte.
Dennoch spreche ich mich ganz klar dafür aus, Texte einheitlich mit einem Label zu kennzeichnen und damit gewisse Qualitätsstandards einzuhalten, um zum einen Texte in Leichter Sprache in Zukunft vor allem für die Zielgruppe leicht erkennbar zu machen, zum anderen aber auch in der Hoffnung, dass durch die vermehrte Sichtbarkeit noch mehr Unternehmen auf diesen (wichtigen) Zug aufspringen.

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Sonja Gross

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Sexualität und Recht bei Menschen mit geistiger Behinderung: Wie viel Selbstbestimmung ist möglich, wie viel Schutz nötig?

30/9/2019

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Karl, ein Bewohner des stationären Wohnheims, kommt mit dem Wunsch zur Betreuerin, dass seine Freundin Lisa in seinem Zimmer übernachtet. Karl ist 25 und Lisa 19 Jahre alt. Sie sind seit ein paar Wochen ein Paar und schmusen gerne miteinander. Beide haben eine geistige Behinderung.
Soll die Betreuerin dem Wunsch nachkommen? Was, wenn sie Sex haben und Lisa womöglich schwanger wird? Müssen die Eltern zuerst gefragt oder zumindest informiert werden?

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Sexualität im Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und Schutz
Menschen mit geistigen Behinderungen haben ein Recht auf sexuelle Entfaltung im Rahmen ihrer Möglichkeiten, Fähigkeiten und Bedürfnisse. Die sexualbiologische Entwicklung verläuft in den meisten Fällen altersgemäss und unabhängig von intellektuellen Fähigkeiten.
Bedürfnisse und Wünsche der Klient*innen zu Partnerschaft, Sexualität und Liebe müssen deshalb ernstgenommen werden und es muss ihnen nachgegangen werden. Dabei kann ein Spannungsfeld entstehen zwischen der Wahrung des Selbstbestimmungsrechts der Klient*innen und dem Schützen vor Grenzverletzungen. Denn einerseits sollen erwachsene Menschen selbst bestimmen und gleichzeitig sollen sie vor möglichen Übergriffen und schlechten Erfahrungen geschützt werden.  
Im Folgenden fasse ich für Sie die grundlegendsten Gesetze zusammen, an denen Sie sich in dieser oder einer ähnlichen Situation orientieren können.
 
Wer darf Sex haben?
In der Bundesverfassung untersteht das Recht auf Sexualität dem Grundrecht der persönlichen Freiheit (vgl. Art. 10). Ausserdem handelt es sich um ein höchstpersönliches Recht und um ein Menschenrecht, das auch in der BRK verankert ist.
 
Alle, die urteilsfähig sind, dürfen selber über ihre Sexualität entscheiden.
Es folgen zwei wichtige Fragen, um zu entscheiden, ob jemand urteilsfähig ist, sind:

  1. Kann die Person die Situation beurteilen und ist sie sich über die Konsequenzen der Entscheidung bewusst?
    Dabei geht es um ein (äusserst) grobes Abschätzen-Können der Konsequenzen. Wissen beide was Sexualität und was Sex ist? Was Verhütung bedeutet? 
  2. Kann sich die Person aufgrund gewonnener Einsicht und eigener Motive einen eigenen Willen bilden, um zwischen verschiedenen Möglichkeiten eine Entscheidung zu treffen?
    Bei dieser Frage geht es darum, ob Lisa und Karl einen eigenen Willen haben und zum Ausdruck bringen können, was sie wollen. Karl hat seinen Willen mit dem Wunsch, im selben Zimmer zu schlafen, zum Ausdruck gebracht. Nun geht es darum, den Willen von Lisa herauszufinden. Kann sie auf die Frage „Was möchtest du?“ eine klare Antwort geben?  Kann sie verbalisieren, dass sie mit ihm zusammen sein will?
 
Nicht immer kann eine Person das direkt so formulieren. Manchmal ist Urteilsfähigkeit deshalb schwierig abzuschätzen und nachzuweisen. In diesen Fällen ist es wichtig, auch kleine Hinweise wahrzunehmen.

Zum Beispiel:
Lisa hat ihre Fingernägel rot angemalt.
„Lisa, ich sehe, du hast deine Nägel rot angemalt?“
„Ja…“
„Wieso?“
„Ich glaube, das gefällt Karl.“
 
Das ist ein Hinweis auf ihre Urteilsfähigkeit und ihren Willen, mit Karl zusammen zu sein.
Solche und ähnliche Hinweise sollten gesammelt und gut dokumentiert werden.  
Sind sich die Fachpersonen Betreuung ganz und gar unsicher, ob die Person urteilsfähig ist, kann ein*e Sozialpsychiater*in hinzugezogen werden.
 
Die sexuelle Selbstbestimmung kann in drei Fällen eingeschränkt werden:
  1. Schutz von anderen Klient*innen oder des Personals: Der Arbeitgeber hat eine Fürsorgepflicht, die ihn verpflichtet, die Integrität des Arbeitnehmers zu schützen. Das bedeutet, dass sich niemand an die Brüste fassen lassen muss oder Ähnliches.
  2. Schutz der Person vor sich selbst: Aber nur dann, wenn der Schutz deutlich wichtiger ist als die Selbstbestimmung („Es gibt ein Recht auf Selbstschädigung“, Mösch).
  3. Begründet durch einen bestehenden Erziehungsauftrag bei unter 18-jährigen, (Bspw. in der Schule oder einem Jugendheim) wobei der Entscheid fachlich gut begründet sein muss.
 
Wer darf schwanger werden?
Wenn eine Frau schwanger werden möchte, dann darf sie das. Wichtig ist, dass die Person urteilsfähig gemacht wird, indem sie objektiv über die Folgen informiert wird. Bewohnende sollten beispielsweise auch informiert werden über den möglichen Ausschluss aus der Institution oder darüber, dass ihnen möglicherweise das Sorgerecht entzogen wird und das Kind fremdplatziert werden könnte.

Welche Infos dürfen weitergegeben werden?
Eltern haben, in der Funktion der Elternschaft, nie ein Recht auf Informationen. Nur wenn der Betroffene das von sich aus wünscht, dürfen Infos an die Eltern weitergegeben werden.
Angehörigenarbeit findet also nur statt, wenn der Klient oder die Klientin das möchte.
Ob der rechtliche Beistand informiert werden darf, hängt von der Art der Beistandschaft ab und davon, ob der Klient oder die Klientin auch wirklich urteilsunfähig ist. Nur dann, wenn der Klient oder die Klientin nicht urteilsfähig ist, darf der Beistand ohne ausdrücklichen Wunsch des/der Betroffenen informiert werden.
Ein Auskunftsrecht oder -pflicht besteht, wenn dienstlich gewonnene Kenntnisse ein Tätigwerden der KESB zum Schutz des Klienten/der Klientin oder einer dritten Person notwendig machen.
 
Welches sind die wichtigsten Gesetzesartikel?
Sexuelle Handlungen mit Kindern (Art. 187 StGB)
Wer mit einem Kind unter 16 Jahren eine sexuelle Handlung vornimmt, es zu einer solchen Handlung verleitet oder es in eine sexuelle Handlung einbezieht, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit einer Geldstrafe bestraft. Die Handlung ist jedoch nicht strafbar, wenn der Altersunterschied zwischen den Beteiligten nicht mehr als drei Jahre beträgt.
 
Sexuelle Handlungen mit Abhängigen (Art. 188 StGB)
Auch Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren stehen noch unter besonderem Schutz. Wenn etwa Erwachsene eine Machtposition ausnutzen, um Minderjährige dazu zu bringen, mit ihnen Sex zu haben, etwa als Lehrer, Lehrmeister oder Chef, machen sie sich genauso strafbar. Ihnen droht eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe.
 
Sexuelle Nötigung (Art. 189)
Wer eine Person zur Duldung einer beischlafähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung nötigt, bspw. indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder mit einer Geldstrafe bestraft.
 
Schändung (Art. 191)
Wer eine urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person in Kenntnis ihres Zustandes zum Beischlaf, zu einer beischlafähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung missbraucht, wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren oder mit einer Geldstrafe bestraft.
Beispiele:
Sexuelle Beziehung von nicht geistig beeinträchtigten Menschen zu geistig beeinträchtigen Menschen können unter diesen Artikel fallen, oder wenn dich jemand betrunken macht und dann Sex mit dir hat.
 
Sexuelle Handlungen mit Anstaltspfleglingen, Gefangenen und Beschuldigten (Art. 192 StGB)
Wer unter Ausnützung der Abhängigkeit einen Anstaltspflegling, Anstaltsinsassen, Gefangenen, Verhafteten oder Beschuldigten veranlasst, eine sexuelle Handlung vorzunehmen oder zu dulden, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
Hat die verletzte Person mit dem Täter die Ehe geschlossen oder ist sie mit ihm eine eingetragene Partnerschaft eingegangen, so kann die zuständige Behörde von der Strafverfolgung, der Überweisung an das Gericht oder der Bestrafung absehen.

Ausnützung der Notlage (Art. 193)
Wer eine Person veranlasst, eine sexuelle Handlung vorzunehmen oder zu dulden, indem er eine Notlage oder eine durch ein Arbeitsverhältnis oder eine in anderer Weise begründete Abhängigkeit ausnützt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
Ist die verletzte Person mit dem Täter eine Ehe oder eine eingetragene Partnerschaft eingegangen, so kann die zuständige Behörde von der Strafverfolgung, der Überweisung an das Gericht oder der Bestrafung absehen.
 
Exhibitionismus / sexuelle Belästigung (Art. 194/198)
Wer eine exhibitionistische Handlung vornimmt, wird, auf Antrag, mit Gefängnis bis zu sechs Monaten oder mit Bussen bestraft. Wer vor jemandem, der dies nicht erwartet, eine sexuelle Handlung vornimmt und dadurch Ärgernis erregt, wer jemanden tätlich oder in grober Weise durch Worte sexuell belästigt, wird, auf Antrag, mit einer Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen bestraft.
 
Pornographie (Art. 197)
Wer pornographische Schriften, Ton- oder Bildaufnahmen, Abbildungen, andere Gegenstände solcher Art oder pornographische Vorführungen einer Person unter 16 Jahren anbietet, zeigt, überlässt, zugänglich macht oder durch Radio oder Fernsehen verbreitet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.
Beispiel:
Der Vater eines 15-jährigen Schulkollegen macht sich strafbar, wenn er Pornoheftli oder Pornovideos auf dem Stubentisch herumliegen lässt, obwohl er weiss, dass sein Sohn immer Freunde nach Hause bringt.
 
Vergewaltigung (Art. 190)
Wer eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren bestraft.
Beispiele:
Ein ehemaliger Freund zwingt dich – unter Drohung, er würde dich sonst umbringen – mit ihm zu schlafen.
 
Merkliste - wann und zwischen wem ist Sex erlaubt?
  • Grundsätzlich müssen die Personen urteilsfähig sein und sich frei dafür entscheiden.
  • Sexuelle Handlungen mit unter 16-Jährigen ist nicht erlaubt, ausser der Altersunterschied zwischen den Beteiligten beträgt nicht mehr als 3 Jahre. Sex mit 16- bis 18-Jährigen ist dann strafbar, wenn ein Machtverhältnis zum Sexualpartner besteht.
  • Sexuelle Beziehungen von nicht geistig beeinträchtigten Menschen zu geistig beeinträchtigen Menschen sind nicht erlaubt, wenn die Person mit Beeinträchtigung zum Widerstand unfähig ist und die andere Person davon Kenntnis hat.
  • Sexuelle Handlungen zwischen Personal und Klienten unter Ausnützung der Abhängigkeit oder des Arbeitsverhältnisses sind verboten.
  • Jegliche sexuellen Beziehungen zwischen Personal und Klienten sind daher unzulässig.
  • Sexuelle Belästigung ist in allen Konstellationen – zwischen Klienten, von Klienten zu Personal oder Personal zu Klienten – unzulässig.
 
Wichtig ist: Aufklären!
Urteilsfähigkeit ist keine andauernde persönliche Eigenschaft, sondern sie hängt damit zusammen, wie viele Informationen jemand hat und damit, wie gut er sich und seinen Körper kennt. Um die Selbstbestimmung der Klient*innen zu erhöhen, ist daher Aufklärungsarbeit wichtig!
 
Literatur und Links:
Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, ZGB, online: https://www.bj.admin.ch/bj/de/home/gesellschaft/gesetzgebung/kesr.html
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Sonja Gross

Auf dieser Seite teile ich mein Wissen zu aktuellen Entwicklungen und Theorien im Sozialbereich. Bitte beachten Sie, dass ich keine Juristin bin. Bei schwierigen Fragen oder Grenzfällen, wenden Sie sich bitte an einen Juristen. Besonders empfehlen kann ich Ihnen Herr Peter Mösch Payot. 
Ich unterstütze soziale Organisationen und Gemeinden bei der Entwicklung und dem Verfassen von Konzepten und weiteren Dokumenten rund um die Begleitung und Betreuung von Kindern, Jugendlichen, älteren Menschen und Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung.
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Ich freue mich über Ihre Nachricht: sonja.gross@conceptera.ch

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Der neue Trend: Leichte Sprache, die Sprache für alle

8/8/2019

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Was ist Leichte Sprache? Wieso braucht es Leichte Sprache? Was macht Leichte Sprache aus?

Diese Fragen sollen im Folgenden beantwortet werden.
 
Durch Leichte Sprache werden Texte so vereinfacht, dass sie für alle leicht verständlich sind. Leichte Sprache erleichtert für viele Menschen den Zugang zu Informationen. Damit ist sie ein wichtiges Instrument zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und des Behindertengleichstellungsgesetzes.
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Gesetzliche Grundlage
Artikel 9 der UN-BRK fordert Zugänglichkeit: Es sollen geeignete Massnahmen ergriffen werden, um Menschen mit Behinderungen unter anderem den gleichberechtigten Zugang zu Information und Kommunikation zu gewährleisten. Die Leichte Sprache ist deshalb ein hervorragend geeignetes Instrument zur Umsetzung der UN-BRK in Institutionen sowie in allen öffentlichen und privaten Organisationen.
Das „Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung“ oder auch „Behindertengleichstellungsgesetz“ genannt, ist in der Schweiz 2004 in Kraft getreten. Dieses Gesetz dient der Beseitigung und Verhinderung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz.
Es ist eine Benachteiligung für Menschen mit Behinderung, wenn Texte so kompliziert geschrieben sind, dass diese für sie nicht verständlich sind. Leichte Sprache ermöglicht Menschen mit Behinderungen denselben Zugang zu Informationen, wie allen anderen Menschen.  

 
Zielgruppe 
Leichte Sprache ist nicht nur für Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung wichtig. Leichte Sprache richtet sich auch an ältere Menschen, insbesondere an Menschen mit Demenz, Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung oder Gehörlosigkeit sowie an Menschen, die eine andere Muttersprache haben. Ebenfalls profitieren bildungsferne Menschen und Menschen mit einem geringen Bildungsniveau.
 
Einordnung der Leichten Sprache im europäischen Referenzrahmen 
Wer einmal einen Sprachkurs besucht hat, erinnert sich bestimmt noch an das Diplom, das er bekommen hat, nachdem er den Kurs erfolgreich absolviert hatte. Auf dem Diplom stand dann: Lisa Meier hat den Kurs Französisch auf Niveau B1 erfolgreich besucht. Die Niveaustufen reichen von A1 bis C2. In nebenstehender Abbildung werden die Stufen  einzeln erläutert. ​
Texte in Leichter Sprache sind in der Regel für das Niveau A1 und A2 geschrieben. Ist der Text einfach geschrieben, aber richtet sich nicht nach speziellen Regeln, ist er in der Regel in einfacher Sprache und entspricht ungefähr dem Niveau B1.
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Die Niveaustufen A1 bis C2 entsprechend dem europäischen Referenzrahmen
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Sprachniveau der Allgemeinbevölkerung
Untenstehende Abbildung zeigt die Verteilung der Sprachniveaus in der Bevölkerung Deutschlands. Daraus ist zu entnehmen, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung auf Niveau B1 befindet. Das Kompetenzniveau von 20% der Bevölkerung liegt auf Niveau A1 und A2, was der Leichten Sprache entspricht. Die grosse Mehrzahl an Behörden- und Firmeninformationen wird hingegen auf Niveau C1 verfasst. Es ist anzunehmen, dass diese nur von einer Minderheit auch verstanden werden.

Für die Schweiz habe ich keine aktuelle Studie gefunden, in der das Kompetenzniveau der erwachsenen Bevölkerung untersucht wurde. ​
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Jedoch zeigt die letzte PISA-Studie von 2015, dass die Lesefähigkeit der 15-Jährigen ungefähr gleich hoch ist wie das Sprachniveau der deutschen Erwachsenen. Ungefähr 20% der Jugendlichen verfügen über höchstens rudimentäre Kompetenzen im Lesen. Davon sind 13,5% in der Lage, einem Text Einzelinformationen zu entnehmen, das Hauptthema eines vertrauten Textes zu erkennen sowie einfache Bezüge zu Aspekten des täglichen Lebens herzustellen. 6,5% fehlen selbst diese eingeschränkten Kompetenzen (vgl. Bfs 2017, online).
Das lässt vermuten, dass das Sprachniveau der Schweizer*innen vergleichbar ist mit dem der deutschen Bevölkerung. Was zeigt, dass jede*r Fünfte Leichte Sprache und die Mehrheit der Menschen einfache Sprache benötigen, um den Inhalt erfassen zu können.
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Fazit 
Beim Verfassen einer Textes oder einer Information sollte immer überlegt werden wer der Adressat bzw. die Adressatin ist. Nur, wenn Informationen adressatengerecht verfasst werden, werden sie auch verstanden.
Aus diesem Grund empfehle ich allen sozialen Institutionen, die mit Menschen mit einer Beeinträchtigung oder mit bildungsfernen Menschen oder Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten, Informationen in Leichter Sprache zur Verfügung zu stellen.

Zugängliche Informationen sind für alle diese Menschen wichtig. Sie helfen: 
  • neue Dinge zu lernen,
  • am Leben der Gesellschaft teilzuhaben,
  • seine Rechte zu kennen und sich für sie einzusetzen,
  • eigene Entscheidungen zu treffen (vgl. https://easy-to-read.eu, online).
 
Möchten Sie Informationen zugänglicher machen oder haben Sie Fragen zur Umsetzung? Ich freue mich über Ihre Nachricht!
 
Literatur und Links 
Behindertengleichstellungsgesetz, online:
https://www.edi.admin.ch/edi/de/home/fachstellen/ebgb/recht/schweiz/behindertengleichstellungsgesetz-behig.html (letzter Zugriff: 1.7.2019)

BFS, Bundesamt für Statistik (2017), online: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/nachhaltige-entwicklung/cockpit/bildung-forschung-innovation/lesefaehigkeit-15-jaehriger.html (letzter Zugriff: 1.7.2019)
 
Inclusion Europe (2016): Europäischer Standard für Leichte Sprache, online: https://easy-to-read.eu/de (letzter Zugriff: 1.7.2019)
 
UN-Behindertenrechtskonvention, online: https://www.edi.admin.ch/edi/de/home/fachstellen/ebgb/recht/international0/uebereinkommen-der-uno-ueber-die-rechte-von-menschen-mit-behinde.html (letzter Zugriff: 1.7.2019)
 
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Deeskalation - was tun, wenn es eskaliert?

3/6/2019

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12:10 Uhr, Mittagspause in der Mensa einer sozialen Institution. Ein plötzlicher Knall! Alle Köpfe drehen sich, um zu schauen, was passiert ist. Am Boden liegen Scherben eines Tellers und eine aufgebrachte Klientin schreit: «Lasst mich doch alle in Ruhe! Ihr seid doch alle Arschlöcher!» Ein Angestellter des Servicepersonals eilt herbei, stellt sich breitbeinig vor die Klientin und weist sie mit lauter Stimme an: «Beruhige Dich!» Daraufhin schmeisst die Klientin den zweiten Teller nach dem Angestellten.
Was ist in dieser Situation schiefgelaufen? Und wie könnte man verhindern, dass es überhaupt erst soweit kommt?
Zur Beantwortung dieser Frage werden in diesem Artikel verschiedene Massnahmen zur Deeskalation aufgezeigt.
​Unter Deeskalation wird das Durchbrechen einer bestehenden oder sich anbahnenden Aggressionsphase verstanden.

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Eskalationsstufen (er)kennen
In den meisten Fällen erfolgt ein Wutausbruch, wie er oben beschrieben wird, nicht plötzlich.
Glynis Breakwell (1998) hat Eskalationen in Kliniken, Schulen und der Sozialarbeit wissenschaftlich untersucht und festgestellt, dass die meisten Gewaltausbrüche nach einer bestimmten Reihenfolge ablaufen. Auf ihren Untersuchungen aufbauend hat sie ein Modell entwickelt, das die typischen Eskalationsphasen beschreibt. Vor der eigentlichen Krise (dem Gewaltausbruch), gibt es nach Breakwell eine Auslösephase und eine Eskalationsphase, in der sich schon erste Anzeichen erkennen lassen.

Damit der Artikel nicht zu lang wird, verzichte ich auf eine ausführliche Erklärung des Modells. Wichtig für die folgenden Ausführungen sind aber die nebenstehenden Abbildungen. Auf dieser sehen Sie als blaue Linie das Erregungsniveau der Klientin und wie es sich vor der Krise und danach verhält.

Handlungsmöglichkeiten, um die Situation zu entschärfen und eine schwere Eskalation zu verhindern, gibt es in allen Eskalationsphasen. Je nach Phase unterscheiden sich die Massnahmen für eine Deeskalation. Aus diesem Grund habe ich die Eskalationsphasen nach Breakwell nummeriert. Daraus ergeben sich sechs verschiedene Deeskalationsstufen, die im Folgenden erklärt werden.
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Stufe 1: Verminderung aggressionsauslösender Reize
Auf Stufe 1 der Deeskalation geht es darum, alles, was zu unnötigem Stress führt, zu minimieren. In sozialen Institutionen kann das zum Beispiel Folgendes sein:
  • Lange Wartezeiten
  • Langeweile
  • Filme mit aggressivem, traurigem Inhalt
  • Coca Cola und andere Getränke mit hohem Koffein- und/oder Zuckergehalt
  • Sehr warme Räume, keine Abkühlmöglichkeiten im Sommer
  • Strukturelle Gewalt: Du musst das anziehen!
  • Hohe Unsicherheit
  • Häufiger, unvorhersehbarer Personalwechsel
  • Warten auf das Essen
  • Abgestandene Luft, Gestank
  • Andere wütende Klient*innen
​
Auch Dinge, die zwar da sind, die Klient*innen aber nicht haben können, können Frustration und Aggressivität fördern oder auslösen. Zum Beispiel herumstehende Kekse, die sie nicht essen dürfen, oder eine vorhandene Game-Station, die sie nicht brauchen dürfen. Grund dafür ist, dass die Selbstbeherrschung immer Willenskraft braucht. Inzwischen geht man davon aus, dass die Willenskraft wie ein Muskel funktioniert, der irgendwann ermüdet (vgl. Baumeister & Tierney 2011, S. 10). Sie ist sozusagen aufgebraucht. Wut und Ärger konstruktiv zu lösen und sich selbst zu beherrschen, braucht ebenfalls Willenskraft, die zu diesem Zeitpunkt dann vielleicht nicht mehr zur Verfügung steht. Deshalb kann es von Vorteil sein, Reize, die verlocken und zugleich Selbstkontrolle benötigen, ganz aus dem Blickfeld zu räumen, also die Kekse beispielsweise ausser Reich- und Sichtweite zu platzieren.

Auch strukturelle Gewalt kann aggressionsfördernd wirken. Im Gegensatz dazu wirken das Empfinden von Selbstbestimmung und das Erleben von Entscheidungsmöglichkeiten deeskalierend. Geben Sie den Klient*innen Wahlmöglichkeiten, die an sie angepasst sind und sie nicht überfordern.

Durch unsere Spiegelneuronen im Gehirn übertragen sich Emotionen und Gefühle auf andere Menschen. Deswegen kann ein wütender Klient eine andere Klientin anstecken. Das verhält sich aber nicht nur zwischen Klient*innen so: Auch gestresste Betreuungspersonen haben diese Wirkung auf Klient*innen. Wenn Sie gestresst sind, ist es deshalb wichtig, dass sie tief durchatmen, ihre Körperhaltung und ihr Gesicht entspannen, an etwas Schönes denken und das fühlen und lächeln.
Überhaupt ist es sinnvoll, entspannte Momente reinzubringen. Das kann auch mittels Ordnung, ruhigen Farben, Musik, geregelten Abläufen und Ritualen geschehen.

Stufe 2: Früherkennung  
«Wie kann Gewalt verhindert werden? Es gar nicht erst soweit kommen lassen!» (Unbekannt).

Je früher man eine drohende Eskalation erkennt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass deeskalierende Massnahmen zum Erfolg führen. Deshalb geht es auf dieser Stufe darum, «die Flamme vor dem Feuer zu erkennen»!  
Vor fast jeder Eskalation gibt es Frühwarnzeichen: Emotionen, wie Ärger oder Frustration, ein angespanntes Gesicht oder eine lautere Stimme. Um diese frühzeitig zu erkennen, ist es wichtig, sie genau zu beobachten (vgl. Wesuls, Heinzmann und Brinker 2018, S. 13).

In der Psychiatrie gibt es eigens zur Früherkennung von drohenden Eskalationen ein Beobachtungsinstrument: die Broset-Gewalt-Skala. Da dieses Beobachtungsinstrument nicht für alle Institutionen gleichermassen gilt, macht es Sinn, sich im Team über die individuellen Frühwarnsymptome der Klient*innen auszutauschen. Während die einen sich vielleicht ganz zurückziehen, wenn es ihnen nicht gut geht, sind die anderen besonders redselig oder wirken angespannt. Oftmals bemerken Betroffene auf dieser Stufe ihre eigene erhöhte Erregtheit noch nicht, aber für Aussenstehende ist sie schon wahrnehmbar.

Stufe 3: Verbale Deeskalation
Steigt das Erregungsniveau weiter an, ist es immer wahrscheinlicher, dass die Situation zu eskalieren droht. In dieser Phase gilt immer «Deeskalation first!». Es ist wichtiger zu deeskalieren, als sich durchzusetzen. Ziel ist es, dem Klienten oder der Klientin und sich selbst zu helfen, aus der Situation rauszukommen.

Dabei ist Selbstreflexion zentral. Sie ist im Zusammenhang mit Aggressionen in zweierlei Hinsicht wichtig. Einerseits sollte reflektiert werden: Wie wirkt der andere auf mich? Was löst sein Verhalten bei mir aus?
​Wichtig ist, dass die Erregung und Aggressivität und eventuell damit einhergehende Beleidigungen oder Beschimpfungen nicht persönlich genommen werden. Man sollte sich bewusst machen, dass sie ein Ausdruck der momentanen Notlage des Menschen sind.
Und andererseits sollte reflektiert werden: Wie wirke ich auf mein Gegenüber? Kann ich selbst meine Gefühle unter Kontrolle halten? Welche Gefühle löse ich zum Beispiel mit meiner Körperhaltung, Mimik oder Gestik beim anderen aus?
So ist es in den meisten Fällen unter anderem empfehlenswert, eine ausreichende Körperdistanz einzuhalten, eine seitliche Körperhaltung einzunehmen, keine ruckartigen Bewegungen zu machen, zwar Augenkontakt zu suchen, aber keinen aufdringlichen Augenkontakt und offene Hände zu zeigen.

Um die Aufmerksamkeit zu bekommen und das Gegenüber einen Moment aus seiner Erregung zu holen, hilft oft ein kurzes, bestimmtes «Hallo, Kurt» oder «Stopp, Anna»; das Ansprechen mit Namen wird empfohlen.
In diesem Moment ist es wichtig, dass keine Belehrungen folgen, sondern die Gefühle anerkannt und akzeptiert werden.
  • Nicht: «Du brauchts keine Angst zu haben! Oder Beruhige dich!».
  • Sondern: «Ich verstehe, dass du Angst hast. Ich werde versuchen, dir zu helfen, weniger Angst zu haben.»
  • Nicht: «Schrei nicht rum!»
  • Sondern: «Ich merke, wie wütend du gerade bist. Ich verstehe das. Ich will dir helfen.»

Es bringt nichts, lange zu erzählen und auf die Person einzureden, denn in diesem emotionalen Zustand ist sie nicht aufnahmefähig. Daher sollten 2-3 Sätze reichen. Manchmal ist auch die Frage: «Was hat dich aufgebracht?» hilfreich, da es die Energie in einen anderen Hirnteil, weg von den Emotionen, lenkt und die Person sich ernst genommen fühlt.
Vielversprechend sind jedoch oft die Fragen nach dem lösungsorientierten Ansatz:
  • Was hilft dir jetzt?
  • Was wäre deiner Meinung nach der nächste Schritt?
  • Wie könnte eine Lösung aussehen?

Was im Einzelfall hilft, kann sehr unterschiedlich sein. Je nach Person und Situation kann es hilfreich sein, in einen anderen Raum zu gehen, sich zu bewegen, zu spazieren, sich mit Musik abzulenken, eine Atemübung zu machen oder ein Glas Wasser zu trinken.
Wenn die Person selbst nicht weiss, was ihr gut tut, machen Sie ihr ein Angebot. Sie können zum Beispiel fragen: «Möchten Sie ein Glas Wasser?» oder «Möchtest du kurz rausgehen an die frische Luft?»

Je nachdem, wie bedrohlich die Situation schon ist, macht es Sinn, sofort jemanden zu benachrichtigen und dazuzuholen. In jedem Fall ist es wichtig, den Vorfall mit Kollegen/Kolleginnen zu teilen und gemeinsam zu reflektieren.

Immer noch verbreitet ist die Annahme, dass man Ärger und Wut loswerden kann, wenn man sie abreagiert, auslebt. Zum Beispiel, indem man auf einen Boxsack oder ein Kissen einschlägt, sie rausschreit etc. Das stimmt insofern, als dass die Betroffenen nach dieser stellvertretenden Brachialaggression das Gefühl von Erleichterung und Befriedigung erleben. Objektiv steigt aber die Wahrscheinlichkeit, dass Wut und Ärger künftig ebenfalls durch Brachialaggressionen ausgelebt werden (Wesuls, S. 27). Denn in diesem Moment wird gelernt, dass das Erleben und Ausleben von Wut und Ärger sich gut anfühlen und lohnen. Dadurch werden diese Emotionen verstärkt, anstatt dass gelernt wird, wieder aus ihnen herauszukommen.
Vor diesem Hintergrund rate ich deswegen im Regelfall ab von der Verwendung von Boxkissen und Ähnlichem, um akute Wut und Ärger auszuleben.

Stufe 4: Sicherheit herstellen
Wenn es eskaliert, ist das vorrangige Ziel, Sicherheit herzustellen und Schaden zu vermeiden. Es gilt immer: «Safety first!»

Sie sollten sich nie auf einen Kampf oder ein Gerangel einlassen. Auch nicht, wenn Mobiliar oder Sachen kaputt gehen und Sie der stärkere sind.
Falls andere Personen in der Nähe sind, sollten Sie sie sofort in Sicherheit und aus dem Raum bringen. Halten Sie die Fluchtwege frei und stellen Sie sich so hin, dass Sie im Notfall schnell weg können.

Sprechen Sie die Person an und teilen Sie ihre eigene emotionale Befindlichkeit offen mit, indem Sie zum Beispiel sagen: «Sie machen mir Angst.» Denn Personen in dieser Phase merken meist nicht mehr, wie sie auf andere wirken und sind für lange Ansprachen nicht aufnahmefähig.

Stufe 5: Cool Down
Nach der Krise erfolgt die Erholungsphase. Wichtig zu wissen ist, dass das Erregungsniveau also nach der Krise nicht sofort wieder in den Normalzustand sinkt, sondern noch eine Weile stark erhöht bleibt.
In dieser Zeit, ungefähr bis 1½ Stunden nach der Eskalation sollte die betroffene Person keinen weiteren Auslösern ausgesetzt werden, da es leicht zu weiteren Eskalationen kommen kann. Daher sollten Sie mit der Aufarbeitung in Form einer Sanktion oder eines Gesprächs unbedingt noch warten. Achten Sie darauf, dass die Person sich in einer ruhigen und geschützten Umgebung beruhigen kann. Falls mehrere Personen involviert sind, die aneinandergeraten sind, trennen Sie diese räumlich.

Stufe 6: Nachbetreuung
In dieser Stufe sinkt das Erregungsniveau deutlich unter den Normalzustand ab. Diese Phase wird deshalb auch «Depression nach der Krise» genannt. Es kommen Gefühle wie Trauer, Scham oder auch Verleugnung auf. Ziele dieser Phase sind, Beziehungssicherheit herzustellen und die betroffene Person dabei zu unterstützen, wieder zum Normalzustand zurückzukehren.
​
Eine Krise kann die Beziehung gefährden. Deshalb ist es wichtig sicherzustellen, dass es nicht zu einem Abbruch der Beziehung kommt. Dazu sollte der betroffenen Person gezeigt werden, dass sie akzeptiert wird und man gerne mit ihr arbeitet bzw. zusammen ist. In diesem Zusammenhang spricht man auch von der Unterscheidung zwischen Person und Verhalten. Diese Unterscheidung sollte zum Ausdruck gebracht werden.
Dazu könnten Sie beispielsweise einen Tee vorbeibringen und nachfragen, wie es der betroffenen Person geht. Unterstützen Sie die Person dabei, sich selbst wieder einzumitten und schnell zum Normalzustand zurückzukehren. 

Stufe 7: Nachbearbeitung
Erst wenn der Klient oder die Klientin wieder den normalen Zustand erreicht hat, ist eine Nachbesprechung zu empfehlen. Denn erst dann ist die Person wieder richtig aufnahmefähig und kann die Informationen verarbeiten.
Oftmals lohnt sich eine Nachbesprechung im Team, wobei der Verlauf besprochen wird, Früherkennungszeichen festgehalten werden sowie die ergriffenen Massnahmen zur Deeskalation ausgewertet werden. Damit diese gesammelten Erkenntnisse für das nächste Mal genutzt werden können, ist es von Vorteil, die Ereignisse und Schlussfolgerungen gut zu dokumentieren.
Je besser wir den Klienten oder die Klientin kennen, desto erfolgreicher können wir deeskalieren!
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Literatur und Tipps
Abderhalden (2008): Einschätzung des Gewaltrisikos. Erweiterte Brøset-Gewalt-Checkliste (BVC-CH). Online: https://www.gesundheitsdienstportal.de/files/Einschaetzung_des_Gewaltrisikos.pdf (letzter Zugriff: 5.3.2019).

Baumeister, R. F. and Tierney, J. (2011). Willpower Rediscovering the greatest human strength. New York The Penguin Press.

Beckmann, Franz (2005): Online: https://www.bs-lg.de/wp-content/uploads/2018/07/Deeskalieren_in_Gewaltsituationen.pdf

Breakwell, Glynis (1998): Aggression bewältigen: Umgang mit Gewalttätigkeit in Klinik, Schule und Sozialarbeit. Bern, Huber.

Ritter, Valerie (2021): Die 9 Eskalationsstufen: So vermeiden Sie interne Konflikte im Betrieb. Online: https://www.sortlist.de/blog/eskalationsstufen/ (letzter Zugriff am 3.11.2021).

Schmidt, G. (2004): «den Alptraum beenden…» - Krisenintervention nach Traumatisierungen – ein Überblick. In: W. Müller & U. Scheuermann (Hrsg.), Praxis Krisenintervention (S. 229 – 249). Stuttgart, Kohlhammer.
​
Wesuls, Ralf/Heinzmann, Thomas/Brinker, Ludger (2018): Professionelles Deeskalationsmanagement (ProDeMa). Praxisleitfaden zum Umgang mit Gewalt und Aggression in Gesundheitsberufen. Unfallkasse Baden-Württemberg: Stuttgart und Karlsruhe.

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Sonja Gross

Sonja Gross Auf dieser Seite teile ich mein Wissen zu aktuellen Theorien und Entwicklungen im Sozialbereich.
Ich unterstütze soziale Organisationen und Gemeinden bei der Entwicklung und dem Verfassen von Konzepten und anderen Dokumenten rund um die Begleitung und Betreuung von Kindern, Jugendlichen, älteren Menschen und Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung.
​
Ich freue mich über Ihre Nachricht: sonja.gross@conceptera.ch

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Google lanciert 3 innovative Projekte für Menschen mit Behinderungen

14/5/2019

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 An der I/O Entwicklerkonferenz anfangs Mai stellt Google drei neue innovative Projekte vor, die Menschen mit einer Behinderung dabei helfen ein selbstbestimmteres Leben zu führen.​

Die Projekte heissen:
  • Projekt Euphonia (Deutsch: Euphonie, Synonym: Wohlklang, Wohllaut) - um Menschen zu helfen, die nicht gut sprechen können
  • Projekt Relay (Deutsch: Relais, Bedeutung in der Elektrotechnik: automatische Schalteinrichtung, die mittels eines schwachen Stroms Stromkreise mit einem stärkeren Strom öffnet und schliesst) - um Menschen mit einer Hörbehinderung zu helfen
  • Projekt DIVA (steht für DIVersely Assisted, Deutsch: vielfältig unterstützt), um Menschen mehr Selbstbestimmung zu ermöglichen mittels Google Assistant.

Emil Protalinski beschreibt die drei Projekte auf venturebeat.com wie folgt:
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Projekt Euphonia 
 Das Projekt Euphonia, das sich in einem frühen Forschungsstadium befindet, zielt darauf ab, Menschen mit Sprachbehinderungen eine einfachere Kommunikation zu ermöglichen. Sprachstörungen können durch Entwicklungsstörungen wie Zerebralparese und Autismus oder neurologische Erkrankungen wie Schlaganfall, ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), MS (Multiple Sklerose) oder beispielsweise durch traumatische Hirnverletzungen und Parkinson verursacht werden.

Mit dem Projekt Euphonia will Google die Fähigkeit des Computers so verbessern, dass er Menschen mit Sprachstörungen versteht. Der Computer übersetzt dann ihre Aussagen, so dass sie für alle verständlich sind.
 
Die Anwendungsmöglichkeiten sind im Moment noch begrenzt. Das Programm funktioniert nur für Personen, die Englisch sprechen und Beeinträchtigungen haben, die typischerweise mit ALS verbunden sind. Google ist jedoch zuversichtlich, dass die Studie später auf größere Personengruppen und verschiedene Sprachstörungen angewendet werden kann.
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Im Video sehen Sie den Google-Sprachforscher Dimitri Kanevsky, der Englisch lernte, nachdem er als kleines Kind in Russland taub geworden war, und Steve Saling, bei dem vor 13 Jahren ALS diagnostiziert wurde. Kanevsky verwendet „Live Transcribe“ mit einem benutzerdefinierten Modell, das speziell darauf trainiert ist, seine Stimme zu erkennen. Saling verwendet „Non-Speech-Sounds“, um Smart-Home-Geräte anzusteuern und Gesichtsbewegungen, um bei einem Sportspiel mit zu fiebern.

Live Relay
Menschen, die taub oder schwerhörig sind, kommunizieren häufig über Gebärdensprache oder Chat. Aber was ist, wenn sie die Person, mit der sie sprechen, nicht sehen können und keine SMS verfügbar sind?
Sprachanrufe sind keine Option. Bis der Google-Softwareentwickler Sapir Caduri feststellt, dass sie es doch sind!


„Live Relay“ verwendet die Spracherkennung und die Sprachausgabe auf dem Gerät, damit Ihr Telefon in Ihrem Namen zuhören und sprechen kann. Das Forschungsprojekt ermöglicht es einer sprechenden Person, eine gehörlose oder schwerhörige Person anzurufen. Das Tool wandelt Sprache in Echtzeit in Text um und sendet geschriebene Nachrichten als gesprochene Stimme zurück.
Die Person, die spricht, kann einfach am Telefon sprechen, und die Person, die taub oder schwerhörig ist, kann eine SMS an ihr Telefon senden.


Live Relay nutzt auch die Funktionen "Smart Compose" und "Smart Reply" von Google. Vorausschauende Schreibvorschläge und sofortige Antworten helfen der tippenden Person, mit der Geschwindigkeit eines Sprachanrufs Schritt zu halten.
Wichtig ist, dass Live Relay vollständig auf Ihrem Gerät ausgeführt wird, sodass Ihre privaten Anrufe nicht an Google gesendet werden. Das Tool benötigt keine Datenverbindung (nur Mobilfunk) und verwendet nur Audio. Das bedeutet, dass Live Relay mit jedem eingehenden Sprachanruf von jedem Telefon, einschliesslich Festnetz, funktioniert.
 Google betrachtet Live Relay als Alternative zu Real-Time-Text (RTT) und Relay Services. Live Relay könnte für alle Benutzer*innen nützlich sein. Haben Sie schon einmal einen wichtigen Anruf erhalten, können aber nicht aussteigen und sprechen? Mit Live Relay können Sie diesen Anruf entgegennehmen, indem Sie eingeben, anstatt zu sprechen.
 Google plant sogar, Echtzeit-Übersetzungen in Live Relay zu integrieren, um weitere Kommunikationsbarrieren abzubauen. Damit wäre es möglich jeden auf der Welt anzurufen und zu kommunizieren, unabhängig davon, welche Sprache er oder sie spricht. Die sprechende Person spricht in ihrer bevorzugten Sprache und der Text erscheint in der Sprache des Empfängers und umgekehrt.
Projekt DIVA 
Projekt Diva, das für DIVersely Assisted steht, unterstützt Benutzer*innen bei der Eingabe der Google Assistant-Befehle, ohne ihre Stimme zu verwenden. Eine Person mit nonverbaler oder eingeschränkter Mobilität kann mithilfe eines externen Gerätes Google Assistant-Befehle auslösen.

Das Team untersuchte verschiedene Auslösebefehle. Darunter das Drücken eines grossen Knopfes mit Kinn, Fuss oder sogar einem Biss. Nach monatelangem Brainstorming und Präsentationen in verschiedenen Bereichen der Barrierefreiheit und Technik baute das Team einen Prototyp und gewann einen Innovationswettbewerb für Barrierefreiheit.
Die Lösung war eine Box, in die Sie einen Hilfsknopf über eine 3,5-mm-Buchse einsteckten. Das von der Schaltfläche ausgehende Signal wird dann in einen Befehl umgewandelt, der an den Google-Assistenten gesendet wird.

Mit dem Hilfsknopf ist es nun möglich beispielsweise Musik auf herkömmlichen Geräten abzuspielen, ohne diese direkt bedienen zu müssen. So, wie es Giovanni, der Bruder des Entwicklers dieses Knopfes macht im Video:
In Zukunft soll es mit dieser Technologie auch möglich sein weitere Objekte mit Tags zu versehen und jedem Tag einen Befehl zuzuweisen. Damit wird es beispielsweise möglich mittels einer Cartoon-Puppe einen Cartoon im Fernsehen einzuschalten oder durch eine physische CD Musik auf Ihrem Lautsprecher auszulösen.

Google gibt Entwickler*innen alle technischen Details bekannt, damit sie ihr eigenes Project Diva-Gerät erstellen können!
Ich hatte Gänsehaut beim Lesen dieser tollen Neuigkeiten und freue mich auf die weiteren Entwicklungen. Ich hoffe, es geht Ihnen genau so.

Literatur und Links
Protalinski, Emil (7.5.2019): Google unveils 3 accessibility projects that help people with disabilities online: https://venturebeat.com/2019/05/07/google-ai-accessibility-project-euphonia-diva-live-relay/
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Sonja Gross

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