Wenn man eine Person in ihrer Entwicklung unterstützen möchte, sind Entwicklungstheorien von grosser Bedeutung. Die richtige Einschätzung des Entwicklungsstandes gibt Anhaltspunkte für die passende Unterstützungsleistung und liefert ausserdem Erklärungen für das Wahrnehmen und Verhalten eines Menschen. Geistige Behinderung bedeutet in erster Linie eine Beeinträchtigung oder Verlangsamung der kognitiven Entwicklung. «Unter kognitiver Entwicklung versteht man die Entwicklung all jener Funktionen, die dem Erkennen und Erfassen der Gegenstände und Personen der Umgebung und der eigenen Person gelten. Zu diesen Funktionen gehören Intelligenz bzw. Denken, Wahrnehmung, Problemlösen, Gedächtnis, Sprache etc.» (Stangl, 2018). Eine der weltweit bekanntesten Theorien zur Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten stammt vom Schweizer Jean Piaget (9.8.1896 in Neuchatel bis 16.9.1980 in Genf). Interessant ist die Frage, ob und wie kann die Kognitionstheorie nach Piaget auf Menschen mit geistigen Behinderungen angewendet werden? Und wie können Menschen mit geistigen Behinderungen folglich am besten in ihrer Entwicklung unterstützt werden? Kognitionstheorie nach Piaget: Wie entwickelt sich das Denkvermögen? Piaget betrachtete die geistige Entwicklung als einen Prozess der aktiven Konstruktion von Wissen in der Interaktion des Individuums mit der Umwelt. Wissen entsteht also im Zusammenspiel zwischen der Person und seiner Umgebung. Dabei sind zwei gegensätzliche Prozesse zentral: die Assimilation und die Akkommodation. · Assimilation: Der Mensch passt Umweltgegebenheiten an bestehende Handlungsmöglichkeiten/Erkenntnisfähigkeiten an. Er benutzt also die ihm zur Verfügung stehenden Mittel (seine kognitiven Mittel und seine Handlungsfähigkeiten), um die Umweltprobleme zu meistern. · Akkommodation: Der Mensch wandelt seine Handlungs- und Denkweisen den Umwelterfordernissen entsprechend an. Auf diese Weise erwirbt er neue motorische und/oder kognitive Fähigkeiten. Piaget ging davon aus, dass kognitive Fähigkeiten aufeinander aufbauen und sich in einer gewissen Reihenfolge bilden. Jedes nächsthöhere Stadium geht aus dem vorangehenden Stadium hervor. Unterschieden werden vier Hauptstadien der geistigen Entwicklung in der Kindheit und im Jugendalter, die im Folgenden beispielhaft erklärt werden. 1. Sensomotorische Stufe (0-1.5/2 Jahre) Das Verhalten in der sensomotorischen Phase entsteht ausschliesslich durch das Zusammenspiel von Wahrnehmungseindrücken und motorischer Aktivität. Das Baby hat angeborene Reflexmechanismen, wie zum Beispiel den Greifreflex, bei dem die Finger des Babys automatisch alles umschliessen, was mit seinen Handflächen in Berührung kommt. Es entdeckt einfache Reaktionen und schüttelt beispielsweise eine Rassel, damit es rasselt. Gegen Ende dieser Stufe erreicht das Kind die Erkenntnis, dass eine Rassel, die unter der Decke verschwindet, weiterhin existiert (das wird auch Objektpermanenz genannt). 2. Präoperative Stufe (1.5-6/7 Jahre) In dieser Stufe lernt das Kind, mithilfe von verinnerlichten Handlungen Probleme zu lösen. Das Denken verknüpft sich zunehmend mit der Sprache. Diese Stufe zeichnet sich beispielsweise aus durch: · Das Kind lernt zu sprechen. · Es orientiert sich an verinnerlichten Handlungsabläufen: Sonntag ist der Tag, an dem Eltern länger im Bett sind. · Das Kind ist selbstbezogen und versteckt sich zum Beispiel hinter seinen eigenen Händen. · Es erkennt Objekte anhand bestimmter Merkmale: Es fliegt, also ist es ein Vogel. · Es erkennt Ursache-Wirkungsketten, aber die genauen Umstände nicht: Das Plüschtier braucht Salbe, damit die Naht „heilt“. 3. Konkret-operative Stufe (6/7-11/12 Jahre) Das Denken ist weiterhin an anschaulich erfahrbare Inhalte gebunden, löst sich aber mehr und mehr von der momentanen Anschauung. Es werden nun verschiedene Merkmale eines Gegenstandes und Vorgangs gleichzeitig erfasst und zueinander in Beziehung gesetzt. Regeln beziehen sich jetzt auf die Relation zwischen zwei und mehr Begriffen. Das Kind denkt im Sinne verinnerlichten Handelns, kann vorausdenken und sein Handeln reflektierend steuern. Logische Schlussfolgerungen über Phänomene, die physische Objekte betreffen, und über konkrete Situationen werden möglich. Das Regelspiel wird zur vorherrschenden Spielform. 4. Formal-operative Stufe (ab 10/11 Jahre) Der Jugendliche kann mit abstrakten Inhalten wie Hypothesen gedanklich umgehen, Probleme theoretisch analysieren und (wissenschaftliche) Fragestellungen systematisch durchdenken. Er hat die höchste Form des logischen Denkens erreicht. Diese Stufe zeichnet sich bspw. durch folgende Punkte aus: · Abstraktes Denken · Schlussfolgerungen · Interpretationen · Hypothesen · Flexibles und wirkungsvolles Denken · Kombinationsanalyse von Möglichkeiten Anwendung: Kann diese Theorie bei Menschen mit geistiger Behinderung angewendet werden? In der Realität erweisen sich die einzelnen Entwicklungsstufen nicht immer als klar voneinander abgrenzbar oder in sich geschlossen und auch an den Altersangaben gibt es Kritik. Die Stufentheorie ist deshalb eher als eine idealtypische Grundform zu werten. Dennoch gilt sie bis heute als Grundlage für viele Forschungsprojekte und Förderkonzepte. Die Übertragung dieses Modells auf Menschen mit geistiger Behinderung funktioniert vor allem für Menschen mit einer leichteren geistigen Behinderung. Bei mittelgradig schweren und schweren Behinderungen ergeben sich Komplikationen bei der Übertragung, da die Entwicklungsverläufe stark schwanken. Obwohl es auch Menschen mit einer Behinderung gibt mit einem relativ homogenen Entwicklungsniveau, so bildet doch die Mehrheit von ihnen nicht alle geistigen Kompetenzen, die einer bestimmten Entwicklungsstufe zugerechnet werden können, gleichmässig aus, sondern sie entwickeln einzelne Teilfunktionen besser als andere. Bei Menschen mit einer leichteren Behinderung kann davon ausgegangen werden, dass die Stufenfolge irreversibel durchlaufen wird. Es zeigt sich jedoch, dass sie diesen Entwicklungsprozess wesentlich langsamer durchlaufen und sich die Möglichkeiten des konkret- und formal-operativen Denkens nicht umfassend aneignen können. Die Entwicklung kann somit am besten unterstützt werden, wenn man weiss, wo sich die Person befindet und gezielt die Funktionen unterstützen und festigen kann, die der Phase unmittelbar vor den ersten Defiziten angehört. Somit kann sichergestellt werden, dass nicht nur die Entwicklung einzelner Teilfunktionen, sondern die der kognitiven Fähigkeiten insgesamt gefördert wird. Literatur und Links:
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Sonja Gross Master of Arts in Erziehungswissenschaft
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