Ist das Erziehungsverhalten schuld an Verhaltensauffälligkeiten von Kindern? "Daran ist alleine die Erziehung schuld!" Diese Aussage ist mir immer wieder begegnet. Ist da etwas dran? Die elterliche Erziehung spielt eine entscheidende Rolle für die verhaltensspezifische Entwicklung von Kindern. Sie hat einen entscheidenden Einfluss auf verschiedenste Bereiche der Entwicklung, zum Beispiel die inneren Konflikte, Abwehrmechanismen, Aggressivität, Schüchternheit sowie auch auf die Ausprägung und Entwicklung sozialer Kompetenzen. Die durch die Erziehung vermittelten Wertvorstellungen, Meinungen und Haltungen weisen für die Kinder einen prägenden Charakter auf. Grundsätzlich werden seit Diana Baumrinds Typologie drei Erziehungsstile unterschieden: Der autoritative, der autoritäre und der laissez-faire Erziehungsstil. Der letztgenannte wird seinerseits unterteilt in ein permissives und vernachlässigendes Erziehungsverhalten. Lesen Sie dazu den von mir kürzlich veröffentlichten Artikel. Zur Aufgabe der Eltern gehört es, ihren heranwachsenden Kindern soziale, kulturelle und gesellschaftliche Werte und Normen zu vermitteln, um zu gewährleisten, dass sie sich mit den Erwartungen und Anforderungen der Gesellschaft zurechtfinden. Welches Erziehungsverhalten sie dazu anwenden, ist stark abhängig von den Erfahrungen, die sie in ihren Herkunftsfamilien gemacht haben. Durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie werden Erziehungsstile einerseits weitergegeben oder andererseits bewusst durchbrochen. Sollen Kinder wieder strenger erzogen werden? Welchen Einfluss hat der Erziehungsstil auf Verhaltensauffälligkeiten? In diesem Artikel werden verschiedene Forschungsergebnisse zu dieser Frage verglichen, um zu beantworten, welchen Einfluss ein autoritärer im Vergleich zu einem autoritativen Erziehungsstil auf die Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten hat. Der Zusammenhang zwischen Kindesverhalten und autoritärem Erziehungsstil In zahlreichen Studien konnte ein Zusammenhang zwischen dem elterlichen Erziehungsverhalten und den Persönlichkeitsmerkmalen bzw. dem symptomatischen Verhalten des Kindes nachgewiesen werden. Eigenschaften wie Intelligenz, Kreativität, Leistungsmotivation, Selbstachtung und soziale Kompetenz, aber auch Selbstachtung, aggressives Verhalten, Hyperaktivität und emotionale Auffälligkeiten und sozio-emotionale Kompetenzen von Kindern weisen hohe Korrelationen zum Erziehungsstil auf, d.h. sie stehen in einem engen Zusammenhang mit diesem. Es hat sich gezeigt, dass insbesondere eine starke Machtdurchsetzung vonseiten der Eltern – welche sich in autoritärem Erziehungsverhalten zeigt – oftmals mit problematischen Kindesverhaltensweisen einhergeht. Die Studie von Reichle und Franiek (2009) zum Beispiel zeigt höchst signifikante Zusammenhänge zwischen machtvoller Durchsetzung mit oppositionell-aggressivem Verhalten. Insbesondere bei Jungen besteht ausserdem eine hohe Korrelation mit Hyperaktivität und Kinder beider Geschlechter weisen bei einem autoritären Erziehungsstil niedrigere sozial-emotionalen Kompetenzen auf. Kellerhans (1994) beschreibt in seinem Artikel „Erziehungsstile in den heutigen Familien“ vor allem den Zusammenhang zwischen dem Erziehungsstil und der Selbstachtung. Unter Selbstachtung wird einerseits die Fähigkeit zur Einschätzung der persönlichen Kompetenz in verschiedenen Bereichen verstanden und andererseits die Einschätzung des Subjekts seiner Persönlichkeit im Vergleich zur sozialen Umgebung. Der Anteil an positiver Selbstachtung liegt bei Kindern und Jugendlichen unter dem Typus „autoritärer Stil“ lediglich bei 17%. Dieses Ergebnis verdeutlicht, dass nicht einmal jeder Fünfte über eine angemessene, positive Selbstachtung verfügt. Wobei der Einfluss auf das Selbstwertgefühl höher ist, als der Einfluss auf das Kompetenzgefühl. Zudem steht die Selbstachtung bei den Knaben in einem engeren Zusammenhang mit dem Erziehungsstil, als bei den Mädchen. Wichtig ist des Weiteren zu erwähnen, dass die Selbstachtung unabhängig vom sozialen Milieu oder der Art des Familienzusammenhalts ist. Noack und Kracke (2003) haben die „wechselseitige Beeinflussung zwischen elterlichem Erziehungsstil und Problemverhalten bei Jugendlichen“ anhand einer Längsschnittstudie untersucht. Hinsichtlich der Delinquenz gab es einen grossen Unterschied zwischen den männlichen und weiblichen Untersuchungsteilnehmern, wobei die männlichen Versuchspersonen signifikant höhere Werte aufwiesen. Obwohl die Befundlage nicht eindeutig scheint, konnten insgesamt Delinquenz mindernde Einflüsse des autoritären Erziehungsverhaltens auf die Jugendlichen ausgemacht werden. Allerdings steigert ein autoritäres Erziehungsverhalten gleichzeitig die Aggressionstendenz. Zum Auftreten kann gesagt werden, dass der autoritäre Erziehungsstil eher in den unteren Schichten zu finden ist. Generell üben Unterschichteltern mehr Kontrolle, Zwang, Überwachung und Gewaltanwendung aus als Oberschichteltern, so Noah und Kracke (2003). Weiter scheint es, dass Eltern im mittleren Jugendalter autoritärer werden, und zwar insbesondere als Reaktion auf Problemverhalten. Zudem hängt der Erziehungsstil stark mit dem Zusammenhalt der Familie zusammen. Laut Kellerhans (1994) dominiert in den sogenannten „Festungs“-Familien der autoritäre Erziehungsstil. Die „Festungs“-Familien zeichnen sich dadurch aus, dass der Zusammenhalt der Mitglieder gross ist, dass die Wichtigkeit eines innerfamiliären Konsenses betont wird, und dass die Familie als Rückzugsgebiet betrachtet wird. Es kann somit festgehalten werden, dass verschiedene quer- und längsschnittliche Studien eine Korrelation zwischen problematischen Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen, wie Aggressivität, Hyperaktivität und emotionale Auffälligkeiten nachweisen konnten. Gleichzeitig gibt es auch eine Studie, die den autoritären Stil als Delinquenz mindernd beschreibt. Offen bleibt bei diesen Ergebnissen allerdings zu welchem Grad der Erziehungsstil eine Reaktion auf das Verhalten des Kindes ist oder inwiefern das Kindesverhalten durch den Erziehungsstil bedingt ist. Der Zusammenhang zwischen Kindesverhalten und autoritativem Erziehungsstil Die Längsschnittstudie des „National Institute of Child Health and Human Development“ konnte 2002 zeigen, dass Vorschulkinder, die in einem autoritativen Erziehungsumfeld aufwachsen, höhere vorschulische Fertigkeiten, bessere Sprachfertigkeiten, mehr soziale Fertigkeiten und weniger Verhaltensprobleme aufweisen. Aber auch bei Jugendlichen hängen erwünschte Verhaltensweisen stark mit dem autoritativen Erziehungsstil zusammen. Jugendliche, die unter diesem Stil aufwuchsen, erreichen bessere Leistungen in der Schule, sind weniger häufig depressiv oder ängstlich, verfügen über höhere Eigenständigkeit und einen höheren Selbstwert. Ausserdem zeigen sie weniger häufig Problemverhalten, wie Delinquenz oder Drogenmissbrauch. Kellerhans (1994) findet heraus, dass 40% aller Kinder und Jugendlichen, die unter einem autoritativen Erziehungsstil aufwachsen, über eine positive Selbstachtung verfügen. Weiter konnten Noack und Kracke (2003) zeigen, dass autoritative Erziehung eine Verringerung aggressiver Tendenzen nach sich zieht. Zudem sagt ein erhöhtes Ausmass an Delinquenz eine niedrigere Ausprägung der autoritativen Erziehung voraus. Das heisst je höher der autoritative Stil ausgeprägt ist, desto niedriger ist die Delinquenz. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass autoritative Erziehung Delinquenz und aggressiven Tendenzen entgegenwirkt und entwicklungsfördernd ist. Vergleich und Schlussfolgerung Während der autoritäre Erziehungsstil oft mit unerwünschten oder problematischen Verhaltensweisen einhergeht, korreliert der autoritative Erziehungsstil signifikant häufiger mit erwünschten Entwicklungen des Kindes. Es konnte gezeigt werden, dass autoritär erzogene Kinder vermehrt oppositionell-aggressives Verhalten aufzeigen und die Selbstachtung deutlich weniger stark ausgeprägt ist. Während 40% der Kinder unter autoritativem Einfluss eine positive Selbstachtung aufwiesen, waren es beim autoritären Erziehungsverhalten lediglich 17%. Im Gegensatz zur autoritären Erziehung, bei der die Aggressionstendenz eher zunimmt, zieht die autoritative Erziehung eine Verringerung aggressiver Tendenzen nach sich. Weiter sagt der autoritative Erziehungsstil eine tiefere Delinquenz voraus, während beim autoritären Erziehungsstil in einer längsschnittlichen Erhebung ein positiver Einfluss auf das Delinquenzverhalten nachgewiesen werden konnte. Ausserdem korreliert das autoritative Erziehungsverhalten mit zahlreichen anderen positiven Entwicklungen, die sich vor allem im schulischen aber auch im sozialen Bereich zeigen. Nebst der einen positiven Auswirkung des autoritären Erziehungsstils auf schon vorhandene Delinquenz konnten beim autoritären Erziehungsstil vermehrt problematische Kindesverhaltensweisen gefunden werden im Gegensatz zum autoritativen Stil. Autoritär erzogene Kinder zeigen deutlich mehr negative Verhaltensweisen, als Kinder die unter einem autoritativen Erziehungsstil aufwuchsen. Es kann allerdings nicht eindeutig festgestellt werden, dass das Verhalten durch den elterlichen Erziehungsstil herbeigeführt wird. Vielmehr sollte davon ausgegangen werden, dass Erziehung und Problemverhalten durch einen wechselseitigen Prozess miteinander verbunden sind. Das heisst, dass sich der Erziehungsstil nicht unilinear auf das Kindesverhalten bzw. die Kindesentwicklung auswirkt. Das Verhalten des Kindes – zum Beispiel sein Temperament – kann ebenso auf den Erziehungsstil einwirken. Ausserdem müssten die Altersgruppen differenzierter betrachtet werden. Es ist unwahrscheinlich anzunehmen, dass das optimale elterliche Erziehungsverhalten zu jedem Entwicklungszeitpunkt das Gleiche bleibt. Was bedeutet diese Schlussfolgerung nun für die Praxis? Der positive Zusammenhang zwischen autoritativem Erziehungsstil und wünschenswerten Verhaltensweisen und der Vergleich mit dem autoritären Erziehungsverhalten lässt darauf schliessen, dass es vorteilhaft für die Entwicklung des Kindes ist, autoritativ aufzuwachsen. Da dies vielen Eltern nicht bewusst ist, was sich in der Schweiz auch traditionell begründen lässt, wäre es in einem ersten Schritt wichtig, die Eltern vermehrt darüber in Kenntnis zu setzen. Untersuchungen von Eltern-Trainings haben durchaus positive Effekte gezeigt und es ist nachgewiesen, dass sich nur schon eine bewusste Erziehungshaltung der Eltern positiv auf das Kindesverhalten auswirkt. Besonders unterstützend könnten Elterntrainings sein, wenn das Kind oder der Jugendliche problematische Verhaltensweisen zeigt. Denn gerade dann, so haben Noack und Kracke (2003) gezeigt, neigen Eltern dazu autoritärer zu werden. Meist mit unerwünschten Folgen, da gerade in einer solchen Situation eher ein autoritativer Erziehungsstil dem Problemverhalten entgegenwirken würde. Literatur und Tipps Ecarius, J. (Hrsg.) (2007). Familienerziehung. In: Handbuch Familie. Heidelberg: Springer (S.137-156). Kellerhans, J. (1994). In: Familie. Sieben Beiträge. Institut für Sozialethik (S. 8-19). Maccoby, E. E. (2000). Parenting and its effects on children – On reading and misreading behavior genetics. Anual Review of Psychology, 1, 1-27. Noack, P. & Kracke, B. (2003). Elterliche Erziehung und Problemverhalten bei Jugendlichen – Analysen reziproker Effekte im Längsschnitt. Zeitschrift für Familienforschung, 1, 25-37. Ratzke, K., Gebhardt-Krempin, S. & Zander, B. (2008). Diagnostik der Erziehungsstile. In: Cierpka, M. (Hrsg.), Handbuch der Familiendiagnostik (3. Aufl.) Heidelberg: Springer (S. 242-255). Reichle, B. & Franiek, S. (2009). Erziehungsstil aus Elternsicht – Deutsche erweiterte Version des Alabama Parenting Questionnaire für Grundschulkinder. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 41 (1), 12-25. Wild, E. & Lorenz, F. (2009). Familie. In: Wild, E. & Möller J. (Hrsg.), Pädagogische Psychologie. Heidelberg: Springer (S. 235-259).
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Behinderteninstitutionen sind herausgefordert: Selbstbestimmung von Klient*innen mit kognitiven Beeinträchtigungen auf der einen Seite und Sicherheit sowie eine gelingende Zusammenarbeit mit deren Angehörigen auf der anderen Seite.
Conceptera begleitet und berät soziale Institutionen bei der Entwicklung einer Haltung sowie von Handlungsgrundlagen zu diesem Thema. Dabei spielt das Erwachsenenschutzgesetz eine entscheidende Rolle. Für Magazin Inside der Stiftung arwo hat Sonja Gross im Juni 2021 ein Interview gegeben: Zur Person: Sonja Gross (31) hat Erziehungswissenschaft studiert und führt ihr eigenes Unternehmen Conceptera, eine Fachstelle für Konzeptarbeit im Sozialbereich. Der Geschäftsführer der arwo sagt selbstkritisch, dass die arwo die Änderungen im neuen Erwachsenenschutzrecht im Alltag noch zu wenig umgesetzt hat. Sie unterstützen Stiftungen in diesem Prozess. Wurde die Gesetzesänderung anderswo besser umgesetzt? Sonja Gross: Ich kenne keine Institution, die sie vollumfänglich super umgesetzt hat. Dafür hätte es wohl eine grössere Schulungsaktion der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) gebraucht. Wie kamen Sie dazu, Unternehmen bei der Umsetzung der neuen Gesetzesgrundlage zu unterstützen? Ich kam über die Konzeptarbeit dazu und unterstütze Stiftungen bei der Erarbeitung der Grundlagen der Begleitung und Betreuung. Eine vorhandene Grundlage alleine reicht jedoch nicht: Es ist wichtig nicht nur die Angestellten zu schulen, sondern auch die Angehörigen und die Betroffenen aufzuklären. Was sind die Hauptthemen, die im Zusammenhang mit der Selbstbestimmung immer wieder zu Unsicherheiten führen? Die Kleidung ist immer wieder ein Thema. Auch der Umgang mit der Sexualität ist heikel. Angehörigen argumentieren manchmal damit, ihr erwachsenes Kind hätte immer noch den Entwicklungsstand eines Siebenjährigen. Das stimmt, doch der Körper hat sich trotzdem entwickelt und damit bei Vielen auch die Lust. Vor allem ältere Angehörige haben zu diesem Thema öfters eine konservative Haltung. Aus rechtlicher Sicht ist es jedoch eine klare Sache: Sexualität gehört in den Bereich der «höchstpersönlichen Rechte, die einer Person um ihrer Persönlichkeit willen zustehen». Diese Rechte können auch von handlungsunfähigen Personen, zum Beispiel von Personen mit einer umfassenden Beistandschaft oder von minderjährigen Personen, wahrgenommen werden, falls sie urteilsfähig sind und durch niemanden vertreten werden. Wer entscheidet, ob eine Person urteilsfähig ist, also die Tragweite seines eigenen Handelns «vernunftgemäss» einschätzen kann? Grundsätzlich geht man von der Urteilsfähigkeit aus und muss begründen, wenn jemand in einer Sache nicht urteilsfähig ist. Deshalb, und weil Urteilsfähigkeit immer an eine spezifische Fragestellung und Entscheidung gebunden ist sowie sich verändern kann, kann die Urteilsfähigkeit einer Person auch nicht im Dispositiv (der von der KESB verfassten Anordnung in der Ernennungsurkunde, Anm. d. Red) festgehalten werden. Sondern sie muss situativ, am besten über verschiedene Zeitpunkte hinweg, beobachtet, erfragt und erhoben werden. Im Alltag ist die Urteilsfähigkeit zentral. Wenn zum Beispiel eine Begleitperson mit einem Klienten in einem Restaurant isst, kann er grundsätzlich selbst entscheiden, was er bestellt. Hat er aber eine lebensbedrohliche Allergie gegen Nüsse und will eine Nusstorte bestellen, muss die Begleitperson eingreifen, weil der Klient offensichtlich nicht einschätzen kann, was geschehen kann, wenn er den Kuchen isst. Beim Thema Freundschaft und Sexualität scheint es schwieriger zu sein, die Urteilsfähigkeit herauszufinden … Aber auch da gilt es zu bedenken, dass Selbstbestimmung ein Grundrecht ist und dass gemäss Bundesverfassung Freiheit und Selbstbestimmung die Regel und Beschränkung die Ausnahme sind. Will jemand zum ersten Mal beim Freund oder der Freundin übernachten, macht es allerdings Sinn im Gespräch vorgängig herauszufinden, ob beide dasselbe wollen und niemand vom anderen unter Druck gesetzt wird. Da die Einschätzung der Urteilsfähigkeit nicht in jedem Fall auf Anhieb eindeutig ist, müssen die Fachpersonen besonders gut hinschauen, reflektieren und dokumentieren. Auch andere Themen der Selbstbestimmung wären durchs Erwachsenenschutzrecht klar geregelt und sind trotzdem (noch) nicht umgesetzt – warum? Warum man dies nicht früher und konsequenter angegangen ist, kann ich nicht beurteilen. Ich vermute, dass es mit der gewissen Komplexität des Gesetzes zusammenhängt. Das neue Erwachsenenschutzgesetz von einem Tag auf den anderen konsequent umzusetzen, wäre allerdings eine Überforderung für alle Beteiligten auch für die Klient*innen. Viele, vor allem ältere Personen, haben früher nicht gelernt, selbst zu entscheiden und würden sich unsicher und überfordert fühlen, wenn sie auf einmal so vieles selbst bestimmen müssten. Auch die Angehörigen würde man vor den Kopf stossen, wenn man die Selbstbestimmung von einem Tag auf den andern umsetzen würde. Es ist ein Prozess, der Befähigung der Beteiligten, Vertrauen und Zeit braucht. Demenz - eine stark zunehmendes Phänomen und grosse Herausforderung für Alters- und Pflegeheime. Durchdachte Demenzkonzepte erhöhen nicht nur die Mitarbeiterzufriedenheit, sondern auch die Lebensqualität der Bewohnenden und dienen als Grundlage für die Qualitätssicherung und -entwicklung. Ich freue mich, dass die Schweizer Gemeinde dieses wichtige Thema aufgenommen und meinen Artikel zum Beispiel des Pflegeheims Lichtblick, der Gemeinnützigen Stiftung Eulachtal in Elgg, diesen Monat veröffentlicht hat. Die elterliche Erziehung spielt eine entscheidende Rolle für die Entwicklung von Kindern. Psychoanalytische Theorien betonen vor allem seit dem zwanzigsten Jahrhundert die Wichtigkeit von frühkindlichen Erfahrungen in den Familien. Diese Erfahrungen haben einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung von inneren Konflikten, Abwehrmechanismen und die Verinnerlichung von Werten und Normen. In diesem Artikel fasse ich für Sie zusammen was unter dem Begriff Erziehungsstil zu verstehen ist und welche Formen hierzu bekannt sind. Erziehungsstile Einleitend möchte ich gerne kurz aus wissenschaftlicher Sicht auf den Begriff «Erziehungsstil» eingehen. Unter dem Begriff Erziehungsstil wird eine relativ verfestigte situations- und zeitübergreifende Reaktion der Eltern, gegenüber ihren Kindern verstanden. Der Erziehungsstil lässt sich damit als eine übergeordnete Kategorie auffassen, die sowohl Erziehungseinstellungen, Erziehungsziele und Erziehungspraktiken beinhaltet. Ratzke, Gebhardt-Krempin und Zander (2008) definieren die elterliche Erziehungseinstellung als sogenannte Erlebensdispositionen, die auf der Erlebens- und Verhaltensebene die Qualität und Intensität der Eltern-Kind-Beziehung widerspiegeln. Einige Beispiele von Erlebensdispositionen sind das Mass an elterlicher Permissivität, Zärtlichkeit oder das Einfühlungsvermögen. Mit elterlichen Erziehungszielen hingegen sind Sollvorstellungen oder –anforderungen gemeint, welche Eltern im Erleben und Handeln ihrer Kinder realisiert haben wollen. Zu solchen Zielen gehören beispielsweise Normen, Selbstständigkeit und Leistungsorientierung. Elterliche Erziehungspraktiken beinhalten im Gegensatz zur Erziehungseinstellung und zu den Erziehungszielen, „konkrete verbale und nonverbale Handlungen der Eltern gegenüber ihren Kindern in bestimmten erziehungsrelevanten Situationen“. Beispiele hierfür sind Belohnungen für ein gewünschtes und Bestrafung für ein unerwünschtes Verhalten. Grundsätzlich werden beim elterlichen Erziehungsverhalten die beiden Variablen Emotionalität und Kontrolle als Grunddimensionen angesehen. Ergänzt werden diese durch die Konsistenz und die Konsequenzen im Erziehungsmilieu. Entscheidend ist somit die Qualität der emotionalen familiären Beziehung und wie Eltern ihre Emotionen und Kontrollmechanismen kommunizieren und begründen. Die amerikanische Psychologin Diana Baumrind hat um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts mehrere Studien über die Verhaltensmuster von Eltern und ihren Kindern durchgeführt. Bei ihren Untersuchungen achtete sie auf die Funktionalität von elterlichen Erziehungspraktiken und deren Auswirkungen auf mehr oder weniger kompetente Heranwachsende. Kompetenz definierte Baumrind anhand zweier Kriterien: Einerseits müssen soziales Verantwortungsbewusstsein sowie soziale Fertigkeiten vorhanden sein und andererseits eine gewisse Unabhängigkeit und Selbstständigkeit. Aus ihren Studien leitete sie schliesslich drei grundlegende Erziehungsstile ab, welche im Folgendem genauer illustriert werden. Der autoritäre Erziehungsstil Eltern, die einen autoritären Erziehungsstil anwenden, versuchen das Verhalten und die Einstellungen ihrer Kinder zu formen und zu kontrollieren. Dabei orientieren sie sich an religiösen Normen, moralischen Vorstellungen oder an sozialen Konventionen. Von essenzieller Bedeutung beim autoritären Erziehungsstil sind traditionelle Werte wie Respekt und Gehorsamkeit gegenüber den Eltern. Es werden kontrollierende Verhaltensweisen als notwendig erachtet und gegebenenfalls auch unangemessenes Verhalten bestraft. Die Entscheidungsgewalt liegt ausschliesslich bei den Eltern, wobei den Kindern ebenfalls ihre Freizeitgestaltung vorgeschrieben wird. Reichle und Franiek (2009) haben in ihrer Studie den autoritären Erziehungsstil als „Machtvolle Durchsetzung“ bezeichnet. Darunter verstehen sie einen rauen und barschen Erziehungsstil, der mit Überreaktionen, Emotionaler negativen Stimmungen sowie mit Zwangs- und Kontrollaspekten verbunden ist. Sie setzen autoritäres Erziehungsverhalten dabei gleich mit dem Fehlen eines positiven Elternverhaltens. Dominierend sind sieben Dimensionen, die den Erziehungsstil auszeichnen: 1. Die Eltern haben die Entscheidungsmacht. 2. Es herrschen starre und unflexible Regeln. 3. Befehle sind häufig. 4. Über die Interessen der Kinder wird hinweggesehen. 5. Nebenwirkungen werden in Kauf genommen. 6. Eine starke Kontrollausübung ist wichtig und schliesslich 7. Es werden harte Bestrafungen – jedoch nicht in körperlicher Hinsicht – eingesetzt. Der autoritative Erziehungsstil In der autoritativen Erziehung begründen Eltern ihre Entscheidungen gegenüber ihren Kindern und erwarten ebenfalls Gehorsamkeit. Es werden Verhaltensstandards formuliert, welche die Kinder zu erfüllen haben. Im Gegensatz zur autoritären Erziehung begründen die Eltern diese Standards und wenden Restriktionen an, ohne die individuellen Wünsche der Kinder zu missachten. Eltern leiten somit ihre Kinder, indem sie ihr Verhalten und ihre Entscheidungen erklären. Beim autoritativen Erziehungsstil weisen die Eltern ein konsistentes Verhalten auf und folgen ihren normativen Überzeugungen und Ansprüchen. Zudem erwarten sie von ihren Kindern, dass sie zum Familienwohl beitragen, indem sie beispielsweise im Haushalt mithelfen. In Bezug auf die Eltern-Kind-Beziehung sind autoritative Eltern sehr fürsorglich, haben eine starke emotionale Verbindung zu ihren Kindern und unterstützen sie sowohl bei schulischen Anforderungen als auch bei ihren persönlichen Interessen. Der laissez-faire Erziehungsstil Der laissez-faire Erziehungsstil wurde von Baumrind in Bezug auf Familien in zwei Unterkategorien unterteilt. Dabei differenzierte sie zwischen einem permissiven und einem vernachlässigendem Erziehungsverhalten. Merkmale des permissiven Erziehungsstils Eltern, die ihre Kinder permissiv erziehen, verhalten sich meist liebevoll und unterstützend ihren Kindern gegenüber. Die Eltern verzichten grundsätzlich auf Strafen und autoritäre Durchsetzungspraktiken und begegnen ihren Kindern mit grosser Akzeptanz. Zudem werden Konfrontationen vermieden und es wird darauf verzichtet Grenzen konsequent durchzusetzen. Die Kinder sind hierbei von nahezu allen Zwängen befreit. Unter permissiv wird somit eine Erziehung verstanden, die einen geringen Anforderungs- und Kontrollcharakter aufweist und gekennzeichnet ist von akzeptierendem, sensiblem und kinderzentriertem Verhalten. Merkmale des vernachlässigenden Erziehungsstils Der vernachlässigende Erziehungsstil gleicht auf den ersten Blick dem permissiven, da von den Eltern ebenso keine Grenzen auferlegt werden und keine etablierten Strukturen vorhanden sind. Im Unterschied zum permissiven Erziehungsstil fehlt jedoch eine emotionale Bindung zwischen Kind und Eltern. Diese emotionale Kälte kann im Extremfall zur Kindesmisshandlung führen. Reichle und Franiek sehen vernachlässigendes Verhalten als „ablehnend, wenig sensibel, elternzentriert und ohne Anforderung und Kontrolle“ an. Der Erziehungsstil - Resultat der eigenen Erfahrungen Welches Erziehungsverhalten Eltern anwenden, hängt stark ab von den Erfahrungen, die sie in ihren Herkunftsfamilien gemacht haben. Durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie werden Erziehungsstile einerseits weitergegeben oder andererseits bewusst durchbrochen. Die durch die Erziehung vermittelten Wertvorstellungen, Meinungen und Haltungen weisen für die Kinder einen prägenden Charakter auf. Zur Aufgabe der Eltern gehört es somit, ihren heranwachsenden Kindern soziale, kulturelle und gesellschaftliche Werte und Normen zu vermitteln, um zu gewährleisten, dass sie sich mit den Erwartungen und Anforderungen der Gesellschaft zurechtfinden. Hierzu ist zu beachten, dass Erziehungsstile abhängig sind von diesen Normen und Werten, wobei auch die persönlichen Eigenschaften der Eltern eine essenzielle Rolle spielen. Literatur und Tipps Ecarius, J. (Hrsg.) (2007). Familienerziehung. In: Handbuch Familie. Heidelberg: Springer (S.137-156). Kellerhans, J. (1994). In: Familie. Sieben Beiträge. Institut für Sozialethik (S. 8-19). Maccoby, E. E. (2000). Parenting and its effects on children – On reading and misreading behavior genetics. Anual Review of Psychology, 1, 1-27. Noack, P. & Kracke, B. (2003). Elterliche Erziehung und Problemverhalten bei Jugendlichen – Analysen reziproker Effekte im Längsschnitt. Zeitschrift für Familienforschung, 1, 25-37. Ratzke, K., Gebhardt-Krempin, S. & Zander, B. (2008). Diagnostik der Erziehungsstile. In: Cierpka, M. (Hrsg.), Handbuch der Familiendiagnostik (3. Aufl.) Heidelberg: Springer (S. 242-255). Reichle, B. & Franiek, S. (2009). Erziehungsstil aus Elternsicht – Deutsche erweiterte Version des Alabama Parenting Questionnaire für Grundschulkinder. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 41 (1), 12-25. Wild, E. & Lorenz, F. (2009). Familie. In: Wild, E. & Möller J. (Hrsg.), Pädagogische Psychologie. Heidelberg: Springer (S. 235-259).
Jeder von uns verbindet mit dem Begriff «Geistige Behinderung» vermutlich etwas anderes. Aber wie wird geistige Behinderung überhaupt genau definiert? Und wer gilt eigentlich als geistig behindert und wer nicht? Auf diese komplexe Fragen möchte ich in diesem Artikel näher eingehen. Der Begriff geistige Behinderung Der Begriff «geistige Behinderung» wird erst seit Ende der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts verwendet. Gerne möchte ich die Entwicklung bis zu diesem Zeitpunkt kurz skizzieren, weil dadurch auch deutlich wird, wie sehr doch die Begriffe von Gesellschaft und Kultur geprägt werden. Menschen mit einer «geistigen Behinderung» gab es schon immer. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich die Bezeichnungen für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen immer wieder verändert. Bereits um Christi Geburt wurden solche Kinder als «Strafe der Götter» angesehen und bereits Neugeborene getötet. Wer am Leben blieb, wurde meist versklavt. Im Mittelalter sprach man von «Wechselbälgern»; so predigte etwa Luther, dass die betroffenen Kinder als Säuglinge vom Teufel ausgetauscht worden und «geistig Tote» seien. Vielfach wurden sie verstossen, verkauft und versklavt und in Rahmen von Hexenprozessen gequält und hingerichtet. Um zu überleben, mussten die Betroffenen betteln, zogen mit Gauklern umher und wurden als »Krüppel« oder »Missgeburten« zur Schau gestellt. Noch bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts war es üblich, für Menschen mit einer Beeinträchtigung Begriffe wie «Idioten», «Geistesschwache», «Imbezile» oder «Schwachsinnige» zu verwenden. Häufig wurden die Betroffenen entweder von ihren Familien versorgt oder in sogenannten Narrenhäusern oder Tollkoben untergebracht, in denen Geisteskranke wie auch Geistesschwache untergebracht wurden. Unter den Nationalsozialisten in Deutschland erfolgten 1920 und 1945 systematische Zwangsterilisationen und Tötungsaktionen von Kranken und Menschen mit körperlicher und geistiger Beeinträchtigung, deren Leben als »unwert« eingeordnet wurde. Im Rahmen des sog. »Euthanasie- und Gnadentodprogramms« wurde ihre Ermordung gezielt geplant, um die arische Rasse von jeglichem »Makel zu befreien«. Und noch heute sind die Folgen dieser Gräueltaten sichtbar: In Deutschland und Österreich gibt es im Vergleich zu anderen europäischen Staaten nur eine geringe Zahl von Menschen mit Beeinträchtigung, die vor dem Kriegsende 1945 geboren wurden. Im Jahr 1958 wird durch die deutsche Elternvereinigung Lebenshilfe der Begriff «geistige Behinderung» eingeführt – nicht zuletzt mit der Absicht, die Stigmatisierungen durch die bis dahin verwendeten Begriffe zu vermeiden. Heute werden die Begriffe «geistige Behinderung», «kognitive Behinderung» oder «kognitive Beeinträchtigung» oftmals gleichbedeutend verwendet. Wobei Betroffene häufig den Begriff Lernbeeinträchtigung vorziehen – was auch verständlich wird, wenn wir einen Blick auf die Diagnose, respektive die Diagnosesysteme werfen. Diagnose und Diagnosesysteme Die Wissenschaft, aber auch die Politik und Versicherungen arbeiten gerne mit eindeutigen Begriffen und Diagnosen, etwa um Vergleichsmöglichkeiten wissenschaftlicher Untersuchungen schaffen oder finanzielle Unterstützungen rechtfertigen zu können. Eine eindeutige und allgemein akzeptierte Definition davon, was eine geistige Behinderung eigentlich ist, ist jedoch schwierig. Denn diese umfasst ein weites Feld und keine einheitliche Gruppe mit fest umschreibbaren Eigenschaften. Einig ist man sich lediglich in der Annahme, dass geistige Behinderung gekennzeichnet ist durch eine tiefere Intelligenz sowie durch eine Beeinträchtigung der sozialen Kompetenz. Grundsätzlich gibt es zwei verschiedene Sichtweisen auf geistige Behinderung:
Die Klinisch-psychologische Sichtweise Klinisch-psychologisch besteht das Ziel darin, international übereinstimmende Kriterien und Bezeichnungen für psychische Störungen zu erstellen, um dadurch zu einem länderübergreifend einheitlichen Verständnis beizutragen und die wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse über die ganze Welt hinweg vergleichbar und anwendbar zu machen. Für diesen Zweck wurden Klassifikationssysteme erarbeitet. Dazu gehören das ICD-10 (internationale Klassifikation psychischer Störungen) und das DSM-IV (diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen). Als geistig behindert gilt demnach, wer einen IQ unter einem festgelegten Wert hat. Dabei gibt es aber verschiedene Problematiken bei der Diagnose: Die dafür festgelegten Werte im ICD-10 und im DSM-IV sind nicht deckungsgleich. Darüber hinaus sind sie sehr hoch: Im ICD-10 liegt der Wert bei 70. Dieser Wert entspricht jedoch dem Niveau der 6. Klasse, weshalb diese Definition von geistiger Behinderung eher befremdlich erscheint. Und zu Recht bestehen Menschen mit einer «geistigen Behinderung» vielfach darauf, dass sie eine Lernbehinderung haben und keine geistige Behinderung. Weitere Problematiken ergeben sich aus der Testsicherheit: Je nach Test fällt die Einstufung anders aus und je tiefer der IQ ist, desto unzuverlässiger bzw. unzureichender ist die Aussage der Tests. Ausserdem sind zwar soziale Kompetenzen zur Charakterisierung einer geistigen Behinderung definiert, jedoch lassen sich diese nur schwer konkretisieren und diagnostisch erfassen. Und schliesslich muss darauf hingewiesen werden, dass geistige Behinderung weder eine Krankheit noch eine psychische Störung ist. Der Widerspruch, diese dennoch in einem Klassifikationssystem für psychische Störungen zu erfassen, ergibt sich wahrscheinlich aus einer Übersetzungsproblematik. Die schulisch-sonderpädagogische Sichtweise Diese Sichtweise stammt, wie es der Titel bereits vermuten lässt, aus dem schulischen Bereich. Vor diesem Hintergrund wird als geistig behindert angesehen, wer über «erheblich unter der altersgemässen Erwartungsnorm liegende Lernverhaltensweisen und Lernmöglichkeiten verfügt» und nicht mehr ausreichend in einer regulären Schule gefördert werden kann. Ziel dieser Sichtweise ist, dass die Betroffenen spezielle Lernziele, Lehr- und Unterrichtsmaterialien ausserhalb der regulären Schule erhalten. Die Problematik aufgrund dieser Diagnose und Definition besteht darin, dass ob jemand als geistig behindert gilt, in hohem Masse davon abhängig ist, wie viele Sonderschulplätze in der gegebenen Region vorhanden sind. So zeigt sich, dass es in Regionen, in denen es weniger Sonderschulen gibt, auch weniger Kinder mit einer geistigen Behinderung gibt. Was bestimmt nicht an der Anzahl der Kinder liegt. Fazit Beim Schreiben dieses Artikels wurde mir einmal mehr deutlich, wie sehr solche Kategorien wie «geistig behindert» künstlich konstruiert sind. Ich schliesse mich Hermann Meyer (2003) an, der Kritik an beiden Diagnosesystemen übt und schreibt: Niemand sollte als geistig behindert bezeichnet werden, weil er eine entsprechende Schule besucht hat oder in einer Behinderteneinrichtung wohnt oder arbeitet. Geistige Behinderung sollte aber auch nicht mit einer Störung oder einer klinischen Krankheit gleichgesetzt werden, wie es in den Klassifikationssystemen der Fall ist. Das bedeutet keineswegs, dass der Begriff nicht wichtig ist oder nicht mehr verwendet werden soll, aber es zeigt sehr wohl, wie wichtig es ist, stets sorgfältig und bewusst mit diesem Begriff umzugehen und auch immer wieder zu hinterfragen, ob, wo und wann er geeignet bzw. gerechtfertigt ist. Literatur und Links Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10, 2020). DIMDI. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information. Online: https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2020/ (letzter Zugriff am 23.9.2020) Meyer, Hermann (2003): Geistige Behinderung – Terminologie und Begriffsverständnis. In: Irblich, Dieter/Stahl, Burkhard (Hrsg.): Menschen mit geistiger Behinderung. Bern: Hogrefe.
Elrike ist 35 Jahre alt und hat eine kognitive Beeinträchtigung. Schon seit ihrer Kindheit hat sie Angst vor Wasser und duscht aus diesem Grund nicht gerne. In den letzten Monaten hat die Abneigung gegen das Duschen stark zugenommen – Elrike weigert sich, sich unter fliessendes Wasser zu stellen. Dies führt zu strengem Körpergeruch, aber auch dazu, dass sie sich ständig am Kopf kratzt, weil es sie so juckt. Was sollen die Fachpersonen tun? Sollen sie Elrike gegen ihren Willen duschen? Heinz ist 85 und hat fortgeschrittene Demenz. In der Nacht wacht er oft orientierungslos auf. Dabei ist er schon mehrfach aus dem Bett gefallen und hat sich dabei verschiedene Verletzungen zugezogen. Wäre ein Bettgitter angebracht? Heidi ist 21 Jahre alt und hat eine kognitive Beeinträchtigung. Gerne möchte sie leben wie andere Gleichaltrige. Besonders geniesst sie es, allein mit dem Bus zu fahren. Dabei hat sie sich schon mehr als einmal verfahren und den Weg nach Hause nicht mehr gefunden. Letzte Woche ist sie von einem Auto angefahren worden, weil sie gedankenlos mitten auf der Strasse spaziert ist. Die Eltern von Heidi fordern von der Institution, dass diese Heidi nicht mehr allein rausgehen lässt. Wie soll die Geschäftsleitung entscheiden? Alle diese Beispiele haben etwas gemeinsam: Es handelt sich um ethische Dilemmata, die auf Anhieb nicht so einfach zu lösen sind. Jede Institution sieht sich früher oder später mit solchen Herausforderungen konfrontiert. Es macht deshalb Sinn, sich mit den Grundlagen ethischer Entscheidungsfindung auseinanderzusetzen und diese konzeptionell zu verankern. Mit einer solchen Handlungsgrundlage schaffen Sie Klarheit, geben dem Fachpersonal Orientierung und können ihr Handeln begründen und sich im Zweifelsfall rechtfertigen. In diesem Artikel möchte ich Ihnen einige grundlegende Überlegungen zur Erarbeitung eines Ethikkonzeptes vorstellen. Definition: Was ist Ethik? Das Wirtschaftslexikon Gabler definiert Ethik wie folgt: «Ethik ist die Lehre bzw. Theorie vom Handeln gemäss der Unterscheidung von gut und böse.» Ethik stimmt nicht immer mit den Gesetzen oder der Moral überein. Die Moral beschreibt hauptsächlich Handlungen, die ein Mensch oder eine Gesellschaft von anderen Mitmenschen erwartet und sorgt damit dafür, dass Menschen ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen. Die Moral ist stark abhängig vom jeweiligen Kulturkreis. So gilt es zum Beispiel in der Schweiz als moralisch korrekt, pünktlich zu sein. Ethik (griechisch Ethos = Sitte, Charakter) ist die Lehre vom richtigen Verhalten. Im Unterschied zur Moral geht es in der Ethik darum herauszufinden und zu begründen, welche Handlungsmöglichkeit in einer bestimmten Situation die beste ist. Dazu muss zwischen verschiedenen Werten, Gütern, Interessen und/oder zwischen dem Anspruch konkurrierender ethischer Prinzipien abgewägt werden. Eine ethische Entscheidung sollte sich sowohl an den ethischen Prinzipien als auch an Werten und Normen der Gesellschaft orientieren. Die angewandte Ethik befasst sich mit genau dieser Herausforderung in der beruflichen Praxis. Ethische Dilemmata in sozialen Institutionen Ethische Dilemmata in sozialen Institutionen bewegen sich häufig im Spannungsfeld zwischen Freiheit, Selbstbestimmung und Teilhabe auf der einen und Sicherheit und Fürsorge auf der anderen Seite. Angehörige und Institutionen sind bestrebt, dass ihren Kindern bzw. Klient*innen nichts zustösst. Sie sollen gesund sein und bleiben und sich nicht verletzen. Was wäre das wohl für ein Skandal, wenn Heidi beim Autounfall tödlich verunglückt wäre und das, obwohl doch bekannt war, dass sie nicht in der Lage war, den Verkehr adäquat einzuschätzen? Demgegenüber steht der Wunsch von Heidi, ihr Selbstbestimmungsrecht und die Forderung der UN-Behindertenrechtskonvention auf Gleichberechtigung und Teilhabe. Einer so jungen Frau zu verbieten, sich allein fortzubewegen, wäre dies nicht massiv hinderlich für ihre Entwicklung und Lebensqualität? Institutionen bewegen sich in diesem Spannungsfeld zwischen Verantwortung/Sicherheitsdenken und Entwicklungsförderung, in dem ethische Dilemmasituationen vorprogrammiert sind. Von einem ethischen Dilemma spricht man, wenn sich die Handelnden mehreren, gleichermassen verpflichtenden Forderungen gegenübersehen, welche sich gegenseitig ausschliessen, so dass, egal wie man sich entscheidet, Werte, die es eigentlich zu berücksichtigen gilt, verletzt werden. Egal welche Entscheidung man trifft – man geht ein Risiko ein und bietet Angriffsfläche für Kritik. Umso wichtiger ist es, dass Sie Ihre Entscheidungen professionell begründen können. Ethische Prinzipien Als Grundlage für eine ethische Entscheidungsfindung sind vor allem die 4 «Prinzipien der biomedizinischen Ethik» von Tom L. Beauchamp und James F. Childress als normative Grössen bekannt geworden.
Chancen und Grenzen eines Ethikkonzeptes Ein Ethikkonzept kann keine Handlungsanleitungen für spezifische Situationen geben. Aber es kann durch das Festhalten allgemein gültiger Prinzipien sowie eines festgelegten Ablaufs der ethischen Entscheidungsfindung in der Institution eine Grundlage für ethisch fundierte Entscheidungen bieten. Damit gibt es dem Fachpersonal Sicherheit und Orientierung, dient als Informationsquelle und Argumentarium gegenüber Klient*innen, Angehörigen und Dritten, dient als zentrales Instrument zur Qualitätssicherung und -weiterentwicklung und ist ein Zeichen für aussenstehende Personen, dass die Institution sich verantwortungsvoll, professionell und transparent mit ethischen Fragestellungen auseinandersetzt. Literatur und Tipps Beauchamp, T. L. & Childress, J. F.: Principles of Biomedical Ethics. 6th Edition. Oxford University Press 2008 Curaviva (2010): Grundlagen für verantwortliches Handeln in Heimen und Institutionen. Online: www.curaviva.ch. Schmid, Peter (2011): EPOS – ethische Prozesse in Organisationen im Sozialbereich. Luzern, Curaviva.
Jede Institution sollte sich Gedanken machen und eine fundierte Haltung entwickeln bezüglich ihrer Zusammenarbeit mit den Angehörigen der Klient*innen. Was sind die Ziele? Was zeichnet gelungene Angehörigenarbeit aus? Wie und durch wen wird sie gestaltet? Gelungene Angehörigenarbeit trägt massgeblich bei zur Gesundheit der Klient*innen, Anzahl der Neukund*innen sowie zur Zufriedenheit der Mitarbeitenden. Im Umkehrschluss ist eine misslungene Angehörigenarbeit zum Beispiel daran erkennbar, dass die Angehörigen weniger oder nicht zu Besuch kommen, die Angehörigen die Mitarbeitenden nicht ansprechen, viele Beschwerden reinkommen, die Mitarbeitenden schlecht über die Angehörigen sprechen und schliesslich das Image der Institution leidet. Bedeutung der Angehörigen Zu den Angehörigen zählen zum Beispiel die (Ehe-)Partner*innen der Klient*innen, ihre Kinder, Enkelkinder, Geschwister und weitere Verwandte sowie andere Personen, die mit der Person eng verbunden sind. Diese Personen sind für die Klient*innen oftmals das Bindeglied zwischen der jetzigen Lebenswelt und ihrem früheren, vertrauten Leben. Die Kontinuität dieser Beziehung(en) gibt den Bewohnenden emotionale Sicherheit. Des Weiteren verfügen die Angehörigen durch die langjährigen Beziehungen über viele Kenntnisse und über den Klienten oder die Klientin, die eine wertvolle Ressource darstellen und wichtige und hilfreiche Hinweise für die Pflege und Betreuung des Bewohnenden geben. Gerade dieses vertiefte Wissen und das hohe Engagement bergen aber auch viel Konfliktpotenzial. Ungelöste Konflikte schaden nicht nur der Reputation bzw. dem Image der Institution, sondern wirken sich auch mittelbar emotional auf die betroffenen Klient*innen aus. Dies kann sich beispielsweise ausdrücken in Verhaltensauffälligkeiten, Wut oder Depressionen. Gelingt es, die Konflikte gemeinsam anzugehen und zu lösen, kann dies massgeblich zur qualitativen Weiterentwicklung und Professionalisierung der Institution beitragen. Alles gute Gründe, sich proaktiv mit dem Thema Angehörigenarbeit auseinanderzusetzen und wichtige Grundlagen für Struktur und Prozess festzuhalten. Im Folgenden möchte ich Ihnen einige Themen in Bezug auf Angehörigenarbeit vorstellen, die es sich, aus meiner Sicht, lohnt, näher zu erläutern. Zugrundeliegende Haltung Was ist für Sie die zugrundeliegende Haltung? Was erwarten Sie von Ihren Mitarbeitenden, aber auch von den Angehörigen in Bezug auf die Zusammenarbeit? Hier gibt es viele verschiedene Ansätze aus der Kommunikationslehre, die in Betracht gezogen werden können. Zum Beispiel: Offenheit, Einfühlungsvermögen, Respekt, Transparenz, Achtsamkeit, Lösungsorientierung oder aktives Zuhören. Auch wenn sich alle sehr überzeugend und gleichermassen wichtig anhören, macht es durchaus Sinn, sich auf 1 bis 3 Schwerpunkte festzulegen, um diese als Basis für Weiterbildungen, Rückmeldungen im Team, Mitarbeiterziele, aber auch für die Information an die Angehörigen zu verwenden. Information der Angehörigen Eine der wichtigsten Voraussetzungen für gelingende Zusammenarbeit ist eine funktionierender gegenseitiger Austausch von Information. Durch regelmässigen Informationsaustausch kann Missverständnissen vorgebeugt werden und eine positive Vertrauensbasis geschaffen werden. Nicht nur über die finanziellen Bedingungen, sondern auch über viele weitere Rahmenbedingungen wie Gestaltungsmöglichkeiten, Erwartungen, Zuständigkeiten, Alltagsabläufe sollte transparent Auskunft gegeben werden. Es gilt also sich zu überlegen, auf welchem Weg die Angehörigen worüber und in welchen Abständen informiert werden. Die Hauptfragen dazu lauten:
Als Medien für die Informationsweitergabe bieten sich unter anderem folgende Mittel an:
Wichtig ist immer die zielgruppenadäquate Kommunikation. Die Ausdrucksweise, egal ob mündlich oder schriftlich, sollte unbedingt den Möglichkeiten der Angehörigen angepasst werden. Gegenseitiger Informationsaustausch, Kontakt-/ Beziehungspflege Eine gute Zusammenarbeit setzt allerdings einen beidseitigen Informationsaustausch voraus. Insbesondere beim Eintritt lohnt es sich bei den Angehörigen systematisch Informationen abzuholen und zu dokumentieren. Dabei handelt es sich allerdings um einen stetigen Prozess, der danach nicht abgeschlossen ist und im Alltag weitergelebt werden muss. Um dies zu gewährleisten sind verschiedene Massnahmen denkbar, zum Beispiel:
Eine weitere Möglichkeit, insbesondere in Institutionen, in denen kein Bewohner*innenrat zustande kommt, beispielsweise aufgrund einer hohen Demenzrate, ist die Gründung eines Angehörigenbeirats. In diesem dienen freiwillige Angehörige als Ansprechpartner*innen für andere Angehörige, indem sie beispielsweise eine «Patenschaft» für neue Angehörige übernehmen. Ausserdem dienen sie als Vermittler bei Konflikten oder können Selbsthilfegruppen organisieren. Beschwerdemanagement Zu Beginn dieses Artikels habe ich darauf hingewiesen, wie negativ sich Spannungen und Konflikte sowohl auf die Bewohnenden als auch auf die gesamte Institution auswirken können. Durch einen gut geregelten Umgang mit Anliegen und Beschwerden können Konflikte frühzeitig aufgelöst werden und das Entwicklungspotenzial, das für die Institution daraus entsteht, genutzt werden. Das Beschwerdemanagement sollte möglichst einsetzen, bevor sich die Situation verschärfen kann. Voraussetzung hierfür ist offen zu sein für Kritik und für eine positive Fehlerkultur. Die Institution muss ausdrücklich festhalten und darüber informieren, dass Kritik gewünscht ist und die Haltung vertreten, dass niemand perfekt ist und Fehler passieren können und sogar müssen, um sich weiterzuentwickeln. Auch sollte betont werden, dass es nicht darum geht nach Schuldigen, sondern nach guten Lösungen zu suchen. Für ein gelingendes Beschwerdemanagement sollte ausserdem transparent für beide Seiten festgehalten werden:
Schulung des Personals Damit die im Konzept festgehaltenen Überlegungen im Alltag gelebt werden können, muss das Personal mitziehen. Dazu empfiehlt sich eine solide Einführung und Schulung des Personals im Umgang mit Angehörigen, im Umgang mit Kritik und Beschwerden, den Rollen und Verantwortlichkeiten sowie der Gesprächsführung. Quellen und Literatur Daneke, Sigrid (2010): Achtung, Angehörige! Kommunikationstipps und wichtige Standards für Pflege- und Leitungskräfte. Hannover: Schlütersche. Ugolini, Bettina (2014): Umgang mit Angehörigen: Wie Institutionen der Alterspflege wertschätzend mit Wünschen, Anliegen und Beschwerden von Angehörigen umgehen können – ein Leitfaden. Bern: Curaviva.
Ein Konzept umschreibt die Grundvorstellung der agogischen Arbeit in einer Werkstätte und schafft Klarheit darüber, was auf welchem Weg erreicht werden soll. Es macht die agogische Arbeit transparent und nachvollziehbar, dient als gemeinsame Grundlage und gibt dem Fachpersonal Orientierung. Träger, Angehörige, Netzwerkpartner und die weitere Öffentlichkeit werden darin ausserdem über das besondere Profil informiert. Das vermittelt Sicherheit und schafft Vertrauen. Wie wird ein Konzept entwickelt? Was sollte bei der Verschriftlichung beachtet werden? Welche Schritte sind notwendig zur erfolgreichen Umsetzung? Diese und weitere Fragen werden wir an diesem Seminartag gemeinsam anschauen.
Die Zusammenarbeit mit Angehörigen stellt die Mitarbeitenden und die Institutionsleitung in Einrichtungen für erwachsene Menschen mit einer Behinderung immer wieder vor Herausforderungen. Denn häufig findet die Zusammenarbeit statt in einem Spannungsfeld zwischen Mitbestimmung der Angehörigen, welche oftmals auch die rechtlichen Vertretungen sind, und der Selbstbestimmung der Klient*innen. Oftmals ist die Beziehung zu den Eltern sehr eng und es ist eine Herausforderung, diese nach ihren Vorstellungen einzubeziehen und gleichzeitig die Privatsphäre und die Wünsche der Klient*innen zu respektieren. Umso wichtiger ist ein fundiertes Konzept, an dem sich sowohl die Mitarbeitenden als auch die Angehörigen, rechtlichen Vertretungen sowie die Klient*innen orientieren können. Dieses dient als Grundlage für die Zusammenarbeit und klärt die Ziele, Haltungen und Rahmenbedingungen. Leider gibt es, anders als im Alters- und Pflegebereich, aber kaum spezifische Literatur, Handlungsempfehlungen oder Standards, an denen man sich hierbei orientieren könnte. Mit diesem Artikel möchte ich dazu beitragen, diese Lücke zu füllen. Bedeutung der Angehörigen bzw. rechtlichen Vertretungen Zu den Angehörigen zählen die Eltern, aber auch Geschwister und weitere Verwandte sowie andere Personen, die mit der Klientin oder dem Klienten eng verbunden sind. Oftmals übernehmen Angehörige wie bereits erwähnt eine Doppelfunktion, indem sie gleichzeitig auch die rechtliche Vertretung sind. Sie verfügen durch ihre langjährige Erfahrung über viele Kenntnisse und Kompetenzen über die Klientin oder den Klienten, die eine wertvolle Ressource darstellen und hilfreiche Hinweise für die Begleitung und Betreuung darstellen. Eine gute Zusammenarbeit zeichnet sich dadurch aus, dass dieses Wissen optimal zugunsten der Klientin oder des Klienten eingesetzt werden kann unter gleichzeitiger Berücksichtigung seiner oder ihrer Wünsche und Privatsphäre. Häufig ist dies ein Balanceakt, denn das Wissen und das oftmals damit verbundene hohe Engagement bergen auch viel Konfliktpotenzial. Ungelöste Konflikte schaden nicht nur der Reputation bzw. dem Image der Institution, sondern wirken sich auch mittelbar emotional auf die betroffenen Klient*innen aus. Dies kann sich beispielsweise ausdrücken in Verhaltensauffälligkeiten, Wut oder Depressionen. Gelingt es, die Konflikte gemeinsam anzugehen und zu lösen, kann dies massgeblich zur qualitativen Weiterentwicklung und Professionalisierung der Institution beitragen. Alles gute Gründe, sich proaktiv mit dem Thema Angehörigenarbeit auseinanderzusetzen und wichtige Grundlagen für Struktur und Prozess festzuhalten. Austausch und Kontaktpflege Viele Überlegungen sind analog der Angehörigenarbeit im Alters- und Pflegebereich. Ich fasse sie im Folgenden nochmals kurz zusammen: Zugrundeliegende Haltung Es lohnt sich, die zugrundeliegende Haltung zu definieren. Was erwarten Sie von Ihren Mitarbeitenden, aber auch von den Angehörigen in Bezug auf die Zusammenarbeit? Information der Angehörigen bzw. rechtlichen Vertretungen Des Weiteren ist es wichtig festzulegen, welche Informationen auf welchem Weg durch wen und innerhalb von welchem Zeitraum weitergegeben werden. Gegenseitiger Informationsaustausch, Kontakt-/ Beziehungspflege Eine gute Zusammenarbeit setzt Informationsaustausch in beide Richtungen voraus. Insbesondere beim Eintritt lohnt es sich, bei den Angehörigen systematisch Informationen abzuholen und zu dokumentieren. Dabei handelt es sich allerdings um einen stetigen Prozess, der danach nicht abgeschlossen ist und im Alltag weitergelebt werden muss. Um dies zu gewährleisten, sollten entsprechende Massnahmen und Verantwortlichkeiten festgelegt werden. Beschwerdemanagement Ein geregeltes Beschwerdemanagement ist zentral, um Konflikte und Spannungen frühzeitig zu lösen und Rückmeldungen konstruktiv zur Weiterentwicklung der Institution nutzen zu können. Der Prozess und die Verantwortlichkeiten im Beschwerdemanagement sollten transparent und verständlich festgehalten und den Angehörigen bzw. rechtlichen Vertretungen, aber auch den Mitarbeitenden kommuniziert werden. Einbezug und Mitbestimmung Voraussetzung für das Gelingen der Zusammenarbeit ist die Klärung von Erwartungen und Verantwortlichkeiten: Wie viel Mitbestimmung ist gewünscht? Wo und in welchem Rahmen dürfen Angehörige bzw. rechtliche Vertretungen mitbestimmen? Wo ist die Grenze? Basis dieser Klärung sollte immer der rechtliche Rahmen sein. Zu diesem gehört das aktuelle Erwachsenenschutzgesetz (im Zivilgesetzbuch, ZGB), das seit 1. Januar 2013 in Kraft ist. Es regelt die behördlichen Massnahmen zum Schutz von erwachsenen Personen, die hilfs- oder schutzbedürftig sind. Insbesondere folgende Punkte sind ausschlaggebend: Urteilsfähigkeit Bei Fragen und Entscheidungen, in denen der Klient oder die Klientin urteilsfähig ist, entscheidet er oder sie grundsätzlich selbst. Der Klient oder die Klientin entscheidet auch darüber, ob und inwiefern die rechtliche Vertretung oder die Angehörigen einbezogen werden sollen. Definierte Beistandschaft Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, KESB, errichtet dann eine Massnahme, wenn eine Person nicht in der Lage ist, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen. Dabei wird immer die Wahrung der grösstmöglichen Selbstbestimmung beabsichtigt. Aus diesem Grund werden 4 verschiedene Arten von Beistandschaft unterschieden und darüber hinaus bestimmte Themenbereiche festgelegt, so dass die Massnahme auf die Unterstützungsbedürfnisse der jeweiligen Person abgestimmt ist. Eine Beistandschaft kann von Angehörigen oder von Professionellen übernommen werden. Diese werden als rechtliche Vertretung bezeichnet. In welchen Angelegenheiten die rechtliche Vertretung unterstützend begleitet oder die Klientin oder den Klienten vertritt, wird im Dispositiv festgehalten. Höchstpersönliche Rechte Es gibt höchstpersönliche Rechte, die «einer Person um ihrer Persönlichkeit willen zustehen». Diese Rechte können auch von handlungsunfähigen Personen, zum Beispiel von Personen mit einer umfassenden Beistandschaft oder von minderjährigen Personen, wahrgenommen werden, falls sie urteilsfähig sind. Unter diese höchstpersönlichen Rechte fällt zum Beispiel, das Recht …:
Die rechtliche Vertretung ist bei solchen Angelegenheiten nicht berechtigt, in Vertretung einer urteilsfähigen Person zu handeln. Ausnahmen können sich höchstens in Notfällen zum Schutz der Person oder Dritter ergeben (z. B. eine medizinisch notwendige Operation) oder bei Kindern bis 18 Jahren auch aus überwiegend erzieherischen Gründen. Datenschutz und Schweigepflicht Mitarbeitende sowie die Leitung einer Institution unterstehen der Schweigepflicht. Für einen Informationsaustausch mit Angehörigen bzw. der rechtlichen Vertretung muss eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt sein:
Die Klient*innen stehen im Mittelpunkt Ist der Klient oder die Klientin einer bestimmten Angelegenheit urteilsfähig, dann entscheidet immer sie oder er selbst über die Angelegenheit! Ein Informationsaustausch findet nur statt, wenn die Klientin oder der Klient das möchte. Ausnahmen werden dann gemacht, wenn dienstlich gewonnene Kenntnisse ein Tätigwerden der KESB zum Schutz der Klientin oder des Klienten oder einer dritten Person notwendig machen. Schulung des Personals Damit die im Konzept festgehaltenen Überlegungen im Alltag gelebt werden, muss das Personal über das notwendige Wissen verfügen und die Haltung verinnerlicht haben. Dazu empfiehlt sich eine solide Einführung und Schulung des Personals im Umgang mit Angehörigen, im Umgang mit Kritik und Beschwerden, den Rollen und Verantwortlichkeiten, der Gesprächsführung und den rechtlichen Rahmenbedingungen. Conceptera bietet zu diesen Themen auch In-House-Schulungen an, die speziell auf Ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. Literatur Daneke, Sigrid (2010): Achtung, Angehörige! Kommunikationstipps und wichtige Standards für Pflege- und Leitungskräfte. Hannover: Schlütersche. Ugolini, Bettina (2014): Umgang mit Angehörigen: Wie Institutionen der Alterspflege wertschätzend mit Wünschen, Anliegen und Beschwerden von Angehörigen umgehen können – ein Leitfaden. Bern: Curaviva.
Von der Pflege zu «Pflege und Betreuung» «Xund, satt, suuber» – Altersheime haben ihre Leistung lange Zeit danach ausgerichtet. Die Pflege stand im Zentrum und es wurde davon ausgegangen, dass es einer Person gut geht, wenn man sie rundum versorgt und sich gut um sie kümmert. Die Anforderungen haben sich aber, ebenso wie die Definition von Lebensqualität gewandelt. Für eine gute Lebensqualität braucht es mehr als körperliche Versorgung, denn nebst dem körperlichen Wohlbefinden ist auch das psychosoziale Wohlbefinden von grosser Bedeutung. Deshalb reicht heute Pflege allein nicht mehr aus und es braucht Pflege und Betreuung. «Um auch im Alter selbstbestimmt und gesund zu leben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können, müssen Betagte auf Betreuungs- und auf Pflegeleistungen zählen können» (Pardini, Heinzmann, Knöpfel 2020, S. 5). Neben der körperlichen Gesundheit haben Aspekte wie Selbstbestimmung und Teilhabe an Bedeutung gewonnen. Dazu sind vermehrt Betreuungs- und Begleitleistungen, wie sie in Institutionen aus dem Behindertenbereich erbracht werden, gefragt. Was bedeutet Betreuung im Kontext von Alters- und Pflegeheimen? Und was macht eine «gute Betreuung» in Alters- und Pflegeheimen aus? Diese Fragen sollen im Folgenden näher beleuchtet werden. Was bedeutet Betreuung im Kontext von Alters- und Pflegeheimen? In diesem Zusammenhang interessant sind zwei Grundlagenpapier, die im März und Mai 2020 von der Fachhochschule Nordwestschweiz im Rahmen einer Studie der Paul Schiller Stiftung veröffentlicht wurden. Im ersten Grundlagenpapier gehen die Autor*innen Riccardo Pardini, Claudia Heinzmann und Carlo Knöpfel dem Begriff «Betreuung» im Kontext Alter auf den Grund. Anhand von Literatur- und Internetrecherche untersuchen sie diesen Begriff in Abgrenzung zu weiteren relevanten Begriffen im Altersbereich wie «Care- und Sorgearbeit» oder «Hilfe und Alltagsassistenz». Betreuung bedeutet ältere Menschen zu unterstützen, wenn sie ihre Bedürfnisse im Alltag aufgrund ihrer Lebenssituation und einer Beeinträchtigung nicht mehr gemäss ihren Vorstellungen selbstständig erfüllen können. Dazu gehört gleichermassen emotionale Unterstützung wie das Zuhören, das Ermöglichen von sozialer Teilhabe oder Unterstützung bei der Alltagsbewältigung wie Waschen, Einkaufen oder Begleit- und Fahrdienste. Die Palette ist breit, denn fast jede unterstützerische Tätigkeit kann Betreuung beinhalten. Im Unterschied zur Pflege ist Betreuung eine Form von Unterstützung, die zum Ziel hat, den Klient*innen trotz ihrer Einschränkungen zu ermöglichen, ihren Alltag selbstständig gestalten sowie am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Selbstbestimmtheit, Wohlbefinden und innere Sicherheit sind zentrale Ziele von Betreuung. Was ist «gute Betreuung»? Schon bei der Definition von Betreuung kam zum Ausdruck, worauf diese abzielt. Gute Betreuung rückt neben der physischen Gesundheit die «Funktionale Gesundheit» ins Zentrum. Das Modell der «Funktionalen Gesundheit», entwickelt von der WHO, bildet das komplexe Zusammenspiel zwischen den unterschiedlichen Faktoren in Bezug auf Gesundheit bzw. Beeinträchtigung und Krankheit ab. Es wird davon ausgegangen, dass die Gesundheit nicht nur vom Körper einer Person abhängt, sondern das Ergebnis verschiedener Wechselwirkungen mit der Umwelt darstellt. Gesundheit ist demnach nicht nur das reibungslose Funktionieren des Körpers, sondern beinhaltet auch Aktivität und Teilhabe an der Gesellschaft. Eine gute Betreuung berücksichtigt deshalb nebst dem Erhalt und der Förderung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten auch die Lebenswelt und zielt darauf ab, älteren Menschen die Möglichkeit zu geben, ihr Leben möglichst selbstbestimmt und selbstständig zu gestalten sowie an normalen Aktivitäten und an der Gesellschaft teilzuhaben. Erwin Böhme beobachtete und proklamierte bereits in den 1990er Jahren, dass es für die Lebensqualität älterer Menschen zentral ist, die Selbstpflege und Selbstfürsorge solange wie möglich zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Gute Betreuung sollte also auf «Hilfe zur Selbsthilfe» abzielen. Allerdings sind nicht alle Aspekte von Lebensqualität universal. Lebensqualität ist subjektiv: Während für die einen ein guter Röstkaffee am Morgen Lebensqualität bedeutet, bedeutet es für die anderen regelmässig zu jassen, Sexualität zu leben oder ans Meer zu fahren. Gute Betreuung kann deshalb nicht für jede Person gleich definiert werden. Stattdessen richtet sie sich an den Bedürfnissen der Person aus. 7 Leitlinien für die Umsetzung In ihrem zweiten Grundlagenpapier gehen die Autor*innen folgender Frage nach: «Wie muss Betreuung im Alter aus ethischer und menschenrechtlicher Perspektive aussehen?» Ihre Ergebnisse fassen sie in 7 Leitlinien, die als Anhaltspunkte für die Umsetzung «guter Betreuung» dienen sollen, zusammen. Die Leitlinien umfassen folgende Punkte:
Selbstbestimmung, Teilhabe, Partizipation, Ganzheitlichkeit, Funktionale Gesundheit, Systemische Sichtweise und Bedürfnisorientierung sind zusammengefasst einige der Grundpfeiler für die Betreuung von älteren Menschen. Mit – neben der Pflege – zunehmender Wichtigkeit der Betreuung steigen auch die Komplexität sowie die Anforderungen an die Fachpersonen. Nicht nur gelerntes medizinisches Wissen, sondern eine gemeinsame Haltung im Umgang mit den Klient*innen ist gefragt. Dies kann zu Verunsicherung, aber auch zu Konflikten und Unzufriedenheit im Fachteam führen. Es lohnt sich deshalb, die Grundsätze und Ausrichtung der Pflege und Betreuung in einem Konzept festzuhalten sowie fundiert einzuführen, damit alle an einem Strang ziehen. Dies führt nicht nur zu einer höheren Lebensqualität für die Bewohnenden, sondern auch für die Fachpersonen! Literatur und Tipps Böhm, Erwin (2009): Psychobiografisches Pflegemodell nach Böhm. Wien: Maudrich. CURAVIVA (2014): Lebensqualitätskonzeption. Für Menschen mit Unterstützungsbedarf. Bern: https://www.curaviva.ch/files/P9VUIZ0/lebensqualitaetskonzeption__curaviva_schweiz__2017.pdf oder https://www.curaviva.ch/Dienstleistungen/Verlag/PRO3p/?id=2FC538A0-89CB-4B1D-852A432EB6223D56&method=objectdata.detail&p=1&callerid=&keyword=Lebensqualit%C3%A4tskonzeption (Zugriffsdatum 17.8.2020). Knöpfel, Carlo/Pardini, Riccardo/Heinzmann, Claudia (2020): Wegweiser für gute Betreuung im Alter. Grundlagenpapier 1: Was ist Betreuung im Alter? Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit. Knöpfel, Carlo/Pardini, Riccardo/Heinzmann, Claudia (2020): Wegweiser für gute Betreuung im Alter. Grundlagenpapier 2: Wie muss Betreuung im Alter aus ethischer und menschenrechtlicher Perspektive aussehen? Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit. Knöpfel, Carlo/Pardini, Riccardo/Heinzmann, Claudia (2018): Gute Betreuung im Alter in der Schweiz. Zürich: Seismo Verlag. Schuntermann, Michael F. (2013): Einführung in die ICF. Grundkurs – Übungen – offene Fragen. Heidelberg u. a.: Ecomed Medizin.
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Sonja Gross Master of Arts in Erziehungswissenschaft
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